Teil 11: Sich selbst zu kennen

EINFÜHRUNG IN VEDANTA (RORY MACKAY)

Teil 11: Sich selbst zu kennen heißt, alles zu kennen

Das Wort „Vedanta“ leitet sich von den Sanskrit-Wörtern „Veda“ und „anta“ ab, was wörtlich das „Ende des Wissens“ bedeutet.

Vedanta ist das Wissen, das allem Wissen ein Ende setzt - das, mit dem alle Dinge gewusst werden.

Laut Swami Dayananda „gibt es kein anderes Wissen, das diesen Anspruch geltend machen kann. Jede andere Form von Wissen ist lediglich Wissen von einem gegebenen Ding, das Mithya ist.“

Wenn du es genau betrachtest, brauchst du nicht alle Flüsse und Seen und Regentropfen auf dieser Welt zu kennen, um Wissen über Wasser zu besitzen. In ähnlicher Weise ist es nicht erforderlich, alle existierenden Namen und Formen zu kennen, um die Essenz dieser Formen zu kennen.

Dies wird in der Chandogya Upanishad deutlich gemacht:

„Indem wir einen Klumpen Lehm kennen, mein Lieber, kennen wir alle Dinge, die aus Lehm gemacht sind: Sie unterscheiden sich nur in Name und Form, während der Stoff, aus dem alle gemacht sind, Lehm ist. Indem wir einen Goldklumpen kennen, mein Lieber, kennen wir alle Dinge, die aus Gold gemacht sind: Sie unterscheiden sich nur durch Name und Form, während der Stoff, aus dem alle gemacht sind, Gold ist.“

Wissen über die Welt der Erscheinungen ist Mithya-Wissen. Mithya-Wissen nimmt kein Ende, denn in der Mithya-Welt gibt es unzählige Objekte.

Aber um alle Dinge zu kennen, brauchst du nur die Essenz dieser Dinge zu erforschen.

Ein Töpfer kann viele Töpfe herstellen, aber der Ton, aus dem sie gemacht sind, ist immer gleich. Wenn du also einen Klumpen Ton untersuchst, dann kennst du die Essenz aller Töpfe.

Erinnern wir uns: Mithya ist eine abhängige Wirkung, die von Satya, der unabhängigen Ursache, herrührt.

Satya ist das innewohnende und alles durchdringende Substrat der Existenz, wovon sich alle phänomenalen Objekte (Mithya) ihre begrenzte Existenz leihen. Satya oder Sat ('Sein') ist die eigentliche Natur des Selbst, das - dank der Macht von Maya - diesem gesamten Universum der Formen Existenz verleiht.

Alle Formen leihen ihre Existenz vom Selbst, so wie alle Töpfe ihre Existenz vom Ton leihen und alle Wellen ihre Existenz vom Ozean beziehen.

Indem man Satya (die Ursache) kennt, kennt man auch die Gesamtheit von Mithya (die Wirkung) in ihrer Essenz.

Du bist das gesamte Universum

Die indischen Puranas haben eine wunderbare Geschichte, um dies zu veranschaulichen:

In der puranischen Mythologie sind Lord Ganesha und sein jüngerer Bruder Subrahmanya die Söhne von Lord Shiva und Parvatti.

Um einen Bruderzwist zu schlichten, stellte Shiva die beiden Jungen auf die Probe. Er befahl ihnen, das gesamte Universum zu umrunden, und wer als erster zurückkäme, würde zum Sieger gekürt werden.

Subrahmanya war sich sicher, dass er den Wettbewerb gewinnen würde. Schließlich war er stark und athletisch und sein Transportmittel war ein prächtiger Pfau, während der pummelige Ganesha nur eine kleine Maus als Fortbewegungsmittel hatte.

Zuversichtlich und entschlossen machte sich Subrahmanya auf den Weg, durchquerte das ganze Universum und eilte zurück zu seinen göttlichen Eltern.

Als er zurückkehrte, stellte er bestürzt fest, dass Ganesha ihn geschlagen hatte und bereits als Sieger bei Shiva und Parvatti stand. „Wie konntest du mich besiegen?“ schrie Subrahmanya.

Lord Shiva lächelte. „Ich habe euch gebeten, das gesamte Universum zu umrunden. Ganesha tat dies. Er umkreiste mich und Parvatti.“

Subrahmanya war sprachlos. Ein demütiger Ganesha senkte seinen Kopf und sagte: „Du hast mir gesagt, ich solle das gesamte Universum umrunden, Vater. Aber ich weiß, dass du das gesamte Universum bist.“

Du brauchst nicht den ganzen Kosmos zu bereisen, um die Natur aller Dinge zu erkennen.

Wenn du die Quelle und die Essenz aller Formen kennst, nämlich das Selbst, dann kennst du alles innerhalb der Schöpfung.

Das Selbst, hier durch Shiva symbolisiert, ist das, aufgrund dessen das gesamte Universum existiert und wodurch es erhalten wird. Und es ist das, wodurch es erkannt wird.


Ein Selbst, viele Gesichter

Obwohl das Selbst unteilbar und unendlich ist, wird es zu Lehrzwecken in drei Teile unterteilt.

Zunächst einmal ist da Brahman, das Selbst, das die Natur von Sat-Chit-Ananda hat: Existenz, Bewusstsein und die Glückseligkeit der Grenzenlosigkeit. Das Selbst ist Satya, ursprüngliches Gewahrsein, das selbst-existent, selbst-erhellend und selbst-leuchtend ist.

Dann haben wir Ishvara und den Jiva. Beide erscheinen dank Maya, einer Gewahrsein innewohnenden Kraft. Diese ermöglicht es Ishvara, als die intelligente und wirkende Ursache der Schöpfung, ein Universum scheinbarer Vielfalt zu erschaffen.

Ähnlich wie ein träumender Geist eine Traumwelt allein aus Bewusstsein erschafft, erschafft Ishvara (das Selbst, identifiziert mit dem gesamten Feld von Maya) ein Universum aus grobstofflichen und feinstofflichen Formen aus seinem eigenen Sein.

Innerhalb dieses Schöpfungsfeldes erscheint der Jiva (das Selbst, identifiziert mit einer einzelnen grob- und feinstofflichen Form).

Obwohl der Jiva scheinbar eigenständig, also getrennt ist, ist er in Wirklichkeit nicht von Ishvara verschieden, da er aus der Substanz Ishvaras geschaffen wurde. James Swartz sagt: „Stell dir eine Regenwolke mit Millionen von Wassertropfen vor, die Millionen Spiegelungen des Himmels erzeugen. Ishvara ist die Gesamtheit aller Spiegelungen, sprich der Jivas.“

Aufgrund der verschleiernden und projizierenden Kraft von Maya hält der Jiva, die Erscheinungen für die Realität haltend, sich selbst für eine separate Wesenheit, ein Individuum.

Die Unwissenheit erweckt den Eindruck, du seist eine begrenzte, gefangene Wesenheit, die den Einflüssen von Zeit und Schicksal unterworfen ist. Der Prozess der Selbsterforschung negiert diese falsche Identifikation mit Körper, Geist und Ego.

Es ist wichtig zu verstehen, dass sowohl Jiva als auch Ishvara, Mensch und Gott, Mithya sind. Sie existieren nicht unabhängig aus sich selbst heraus.

Beide leihen sich ihre Existenz vom Selbst, Satya, genauso wie die Traumwelt ihre Existenz vom träumenden Geist leiht.

Letztlich gibt es nur das Selbst. Alles andere ist nur Erscheinung: eine Gestaltung aus Name und Form, die dem Selbst überlagert ist. Nur das Selbst ist an sich real. Alles „andere“ als das Selbst ist Mithya, was bedeutet, dass es nur scheinbar real ist.

Gewahrsein, Schöpfung und Ishvara

„Aus seiner göttlichen Kraft entspringt dieses ganze magische Schauspiel von Name und Form, von dir und mir, das den Fluch von Schmerz und Vergnügen bewirkt.
Nur wenn wir diesen magischen Schleier durchdringen, sehen wir den Einen, der als viele erscheint.“

- Shvtashvatara Upanishad -

Im vorigen Artikel dieser Serie haben wir die Natur Ishvaras erkundet, der vedantischen Definition von Gott.

Jede Schöpfung hat eine zweifache Ursache: ein Rohmaterial (die materielle Ursache) und die Intelligenz, die erforderlich ist, um dieses Material zu gestalten (die wirksame Ursache).

Diese beiden Faktoren müssen zusammenwirken, damit etwas geschaffen werden kann.

Um einen Tontopf zu erschaffen, benötigen wir eine materielle Ursache, den Ton, und eine wirksame Ursache, den Töpfer.

Im Falle der meisten Objekte sind materielle und wirksame Ursache getrennt und voneinander verschieden. Zum Beispiel unterscheidet sich der Koch vom Essen, das er zubereitet, genauso wie der Töpfer sich vom Ton unterscheidet.

Ishvara ist hingegen sowohl die Intelligenz, die die Schöpfung formt, als auch die eigentliche Substanz, aus der sie geformt ist.

Die Mundaka Upanishad bedient sich der Analogie einer Spinne und ihres Netzes:

„Wie das Netz aus der Spinne hervorkommt und wieder zurückgezogen wird, wie Pflanzen aus der Erde sprießen, wie Haare aus dem Körper wachsen: Genau so, sagen die Weisen, entspringt dieses Universum dem unsterblichen Selbst, der Quelle des Lebens.“


Die Form und Substanz der Schöpfung

Deshalb spricht Vedanta nicht von einem Gott, der irgendwie außerhalb der Schöpfung residiert, aus dem Himmel herabschaut und sein Urteil fällt.

Ishvara ist die Schöpfung. Er ist ihre Form und Substanz sowie die Intelligenz, die sie erschaffen hat.

Das Selbst, also Satya, das eine unabhängig existierende Prinzip in der Existenz, wurde nicht erschaffen. Da es grenzenlos und ewig ist, ist es weder Geburt noch Tod unterworfen. Es gibt keine Zeit, in der das Selbst nicht war. Es ist nicht von der Welt abhängig. Die Welt ist von ihm abhängig.

Alles in dieser phänomenalen, Maya genannten Realität wurde erschaffen - alle Körper und Gemüter, Pflanzen, Tiere, Planeten, Sterne und Galaxien.

All diese Formen genießen nur eine begrenzte, zeitgebundene Existenz und sind vollkommen abhängig von der sie hervorbringenden Substanz und Intelligenz. Sie sind nur Ausgestaltungen von Name und Form, so wie der Topf einfach eine Ausgestaltung von Ton mit einem speziellen Namen und einer speziellen Form ist.

Beim Schöpfungsprozess wird oft eine Substanz in eine andere umgewandelt. Um Butter herzustellen, muss man zum Beispiel die Milch auf eine bestimmte Art und Weise rühren. Nachdem man dies gemacht hat, kann die Milch nicht wieder zurückgewonnen werden.

Das Selbst jedoch manifestiert mittels der Kraft von Maya dieses gesamte Universum der Schöpfung, ohne selbst irgendeine Veränderung oder Modifikation zu erfahren.

Um zu verstehen, wie das Selbst als das erschaffene Universum mit allen Jivas darin erscheinen kann, ohne dabei selbst verändert zu werden, solltest du deine eigene Traumwelt betrachten.

Dein Geist erschafft und gestaltet ein ganzes Universum von Träumen, während er selbst unverändert bleibt. Sobald du morgens aufwachst, verschwindet die Traumwelt und du findest dich als dieselbe oder derselbe wieder, die oder der du am Tag zuvor warst.


Die Schlange und das Seil

Maya ist eine Welt von Projektionen und fälschlicher Überlagerung.

Vedanta verwendet die Metapher von der Schlange und dem Seil, um dies zu verdeutlichen.

Eines Nachts erreicht ein müder Reisender den Rand eines Dorfes und macht an einem Brunnen Halt. Er will gerade seinen Durst löschen, als er vor Schreck erstarrt. Denn er erblickt eine Schlange neben dem Brunnen - mit aufgerichtetem Kopf und bereit, anzugreifen.

Erst als sich ein anderer Mann mit einer Laterne nähert, erkennt der Reisende, dass das gar keine Schlange ist. Es ist einfach ein zusammengerolltes Seil.

Weil er das Seil fälschlicherweise für eine Schlange hielt, sah er etwas, das in Wirklichkeit gar nicht da war. Das Seil war die Ursache für diese „Schlange“, aber das Seil war immer nur ein Seil.

Die „Schlange“ war ein Produkt der Unwissenheit, eine fälschlicherweise auf das Seil projizierte Überlagerung.


Die unveränderliche Essenz aller Dinge

Das Selbst erschafft nicht, denn es ist nicht-handelnd und unveränderlich. Handlung erfordert Form, Bewegung und Zeit. Dies sind Einschränkungen, die auf Gewahrsein nicht zutreffen.

Das Selbst ist jedoch das, was durch die Macht von Maya ermöglicht, dass die Schöpfung erscheint, fortbesteht und sich am Ende wieder in sich selbst auflöst.

Das Selbst ist also die Essenz und Substanz der gesamten Schöpfung, und doch existiert es abseits der Schöpfung.

Die Brahma Sutras erklären:

„So wie Licht, das keine Form hat, aufgrund des von ihm beleuchteten Objekts verschiedene Formen zu haben scheint, so scheint Brahman, der keine Eigenschaften hat, mit Eigenschaften behaftet zu sein.“

Maya ist es, was bewirkt, dass das Selbst als dieses Universum vielfältiger Formen erscheint.

James Swartz schreibt:

„Maya ist anfangslose, wunderbare und intelligente Unwissenheit. Wir nennen sie Ishvara. Manche nennen sie Gott. Wie Gewahrsein ist auch Maya kein erschaffenes Objekt. Sie wohnt Gewahrsein als Möglichkeit inne. Sie erschafft das ganze Universum. Sie ist die Substanz des Universums - sie umfasst die physischen, moralischen und psychologischen Gesetze, die das Universum und die in ihm lebenden Wesen beherrschen.“

Ishvara ist das schöpferische Prinzip, das mit Hilfe von Maya ein ganzes Universum von Formen erschafft. Ishvara ist ein Upadhi, ein begrenzendes Attribut, das das Selbst, reines Gewahrsein, zu einem Universum der scheinbaren Vielheit werden lässt - so wie das Seil zu einer Schlange zu werden scheint.

Durch die Macht von Maya wird das Eine zu Vielen.

Das von Maya immer freie Selbst identifiziert sich mit nichts, weil es alles ist. Sich mit irgendeiner Form zu identifizieren, ist Unwissenheit, weshalb Maya oft als „Unwissenheit“ bezeichnet wird.

Wenn sich Gewahrsein mit einem bestimmten grob- und feinstofflichen Körper identifiziert, wird es als Jiva, als ein Individuum, bezeichnet. Gewahrsein mit allen grob- und feinstofflichen Körpern auf einer makrokosmischen Ebene identifiziert, wird Ishvara genannt.

Der Schlüssel ist, zu erkennen, dass Ishvara und Jiva nicht unabhängig vom Selbst existieren, genauso wie Welle und Ozean nicht unabhängig von Wasser existieren.

Beide hängen in ihrer Existenz vollständig vom Selbst ab, was bedeutet, dass beide unter die Kategorie von Mithya fallen.

Das Selbst jedoch ist grenzenlos und ewig und ist von nichts anderem abhängig.

Der Bann von Maya

Obwohl das Selbst die gesamte Schöpfung durchdringt wie Fäden einen Wandteppich, wird es durch die verschleiernde Kraft von Maya verborgen. Unfähig, das Selbst als dein innerstes Wesen zu begreifen, lässt du dich von Mayas magischer Show täuschen.

Das unteilbare, alles durchdringende Selbst, das du bist, hält sich fälschlicherweise für eine endliche, begrenzte Wesenheit, eine unter vielen Milliarden, jede scheinbar eigenständig und abgetrennt.

Dieser fundamentale Irrtum entsteht dadurch, dass du unter dem Bann von Erscheinungen und Körperlichkeit stehst. Er ist die Ursache von Samsara.

James Swartz sagt: „Ein großes Problem wird durchden Glauben erschaffen, dass Objekte unabhängig vom Selbst existierten und sie Glück enthielten. So werden Individuen veranlasst, nach Objekten zu streben, um sich zu vervollständigen, obwohl sie bereits vollständig sind. Dadurch wird man an Objekte gebunden. Solange [diese Unwissenheit] nicht beseitigt wird, besteht Samsara fort.“

Wenn man sich selbst als endliche Wesenheit betrachtet, als ein dürftiges Konglomerat aus grob- und feinstofflicher Materie, erleidet man all den Schmerz, der mit einer solchen Begrenztheit verbunden ist.

In der Bhagavad Gita sagt Krishna zu Arjuna, dass diejenigen, die nach Freiheit (Moksha) streben, äußerst seltene Seelen sind. Die meisten Menschen stehen einfach zu sehr im Bann von Maya. Noch seltener sind diejenigen, die es tatsächlich schaffen, Befreiung zu erlangen.

Samsara beruht auf falschen Erwartungen, auf unangebrachtem Streben.

Der Samsari sucht Dauerhaftigkeit in der Welt des Unbeständigen. Er sucht Erfüllung im Endlichen und Glück in dem, was ihm immer nur ein gleiches Maß an Kummer bringen kann. Jeder sucht nach Sicherheit, Beständigkeit, Erfüllung und Glück. Das Problem entsteht, wenn wir diese Dinge in der Welt des Vergänglichen suchen und nicht erkennen, dass sie ausschließlich zum Selbst gehören.

Krishna räumt ein, dass der Bann von Maya schwer zu brechen ist. Es gibt keine Lösung für Maya innerhalb von Maya, weil alles innerhalb von Maya auf Maya allein beschränkt ist.

Deshalb besteht die einzige Lösung darin, das Selbst zu suchen, das von der Unwissenheit von Maya immer unberührt bleibt.