Wie wir gelernt haben, ist Vedanta weder eine Religion noch
eine Philosophie, sondern ein Erkenntnismittel – und zwar für
Selbst-Erkenntnis. Wenn Wissen Macht ist, ist Selbst-Erkenntnis
Befreiung.
Selbst-Erkenntnis wird oft als Raja Vidya, König des Wissens,
bezeichnet, weil sie wie ein König aus sich selbst heraus
strahlt und die höchste Autorität im Land ist. Wenn du die
wahre Natur des Selbst kennst, dann kennst du nicht nur die
Essenz aller Dinge, sondern bist auch von den endlosen Leiden
Samsaras befreit.
Keine andere Art von Wissen kann einen solchen Anspruch
erheben.
Alle anderen Arten von Wissen beziehen sich lediglich auf die
Welt von Mithya (dem scheinbar Realen). Mithya-Wissen ist in
seinem Umfang immer begrenzt, weil Mithya von Natur aus
begrenzt ist. Es ist der Dualität unterworfen, bedingt durch
die klare Trennung von Wissendem und dem Objekt des
Wissens.
Außerdem gibt es für Mithya-Wissen kein Ende. Ganz gleich, wie
viel man über die objektive Welt lernt, was man weiß, wird
immer bei weitem von dem übertroffen, was man nicht weiß.
Mithya-Wissen kann immer nur teilweise sein, denn Mithya
besteht aus unendlich vielen Teilen.
Wenn es jedoch um Satya geht , das unabhängig Reale, gibt es
überhaupt keine Teile, denn das Selbst ist ein ungeteiltes
Ganzes. Deshalb ist es unmöglich, nur teilweises Wissen über
das Selbst zu haben. Entweder man kennt das Selbst oder man
kennt es nicht.
Sobald man es einmal erkannt hat und ein klares Verständnis von
Satya und Mithya - der unabhängigen Ursache und der abhängigen
Wirkung - hat, erlangt man Wissen von allem, denn alles hat
seine Existenz, sein Sein, allein im Selbst.
In der Bhagavad Gita nennt Krishna dieses Wissen das „größte
aller Geheimnisse“. Du fragst dich vielleicht, warum dieses
Wissen geheim sein sollte.
Es geht nicht darum, dass es vorsätzlich verheimlicht wird, als
Teil einer elitären vedantischen Verschwörung, um die Massen
unwissend zu halten! Dieses Wissen war schon immer verfügbar.
Es ist nur so, dass die meisten Menschen wenig Wert darauf
legen.
Der Durchschnittsmensch ist viel zu sehr damit beschäftigt,
Glück, Sicherheit und Freiheit in weltlichen Objekten zu
suchen. Hinzu kommen das Streben nach Geld, Macht, Sex,
Konsumgütern und die immerwährenden Ablenkungen des
alltäglichen Lebens.
Unsere Kultur begrüßt und fördert solche Bestrebungen, und wir
fügen uns nur zu gerne.
Kaum jemand erkennt hingegen Moksha, also Befreiung, als
legitimes Mittel an, um dauerhaftes Glück zu erlangen. Solange
ein Mensch nicht weiß, was Moksha ist und ihm keinen
entsprechenden Wert beimisst, wird er seine Aufmerksamkeit,
Anstrengung und Lebensenergie anderweitig einsetzen.
Die Lehre von Vedanta wird frei zur Verfügung gestellt, aber
wenn du ihren Wert nicht erkennst, wirst du nicht gewillt sein,
ihr zu folgen.
Du wirst weiterhin versuchen, jeden noch so kleinen Tropfen
Glück aus weltlichen Objekten herauszuquetschen, während du
weiterhin die sich selbst erneuernden Frustrationen und Qualen
von Samsara erleidest. Das ist, als ob die Lehre von Vedanta in
einer Zimmerecke wie ein ungeöffnetes Geschenk
herumliegt.
Wenn man einem kleinen Kind die Wahl zwischen einem
Schokoriegel und einem Goldbarren anbietet, wird das Kind mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit die Schokolade nehmen. Mit einem
Goldbarren kann man zwar in Wirklichkeit einen lebenslangen
Vorrat an Schokolade kaufen, aber wenn das Kind den Wert des
Goldes nicht versteht, wird es einfach keinen Wunsch danach
verspüren.
Das Gleiche gilt für Vedanta. Die meisten Menschen streben
lieber nach verlockenden, aber begrenzten weltlichen Objekten,
weil sie den Wert der Selbsterkenntnis nicht erkennen.
Deshalb bleibt dieses Raja Vidya, das königliche Wissen, das
größte aller Geheimnisse.
Nur sehr wenige verstehen seinen Wert. Auch jene, die
spirituell veranlagt sind und Erleuchtung suchen, benötigen für
Vedanta einen qualifizierten Geist und werden ohne diesen keine
Früchte ernten.
Deshalb bestehen die ersten beiden wichtigen Schritte darin,
den Wert der Lehre zu erkennen und dann dafür zu sorgen, dass
der eigene Geist ausreichend vorbereitet ist, sie zu
empfangen.
Der notwendige Aufwand, um ein Objekt zu bekommen, ist in der
Regel proportional zur Größe oder zum Wert des Objekts. Mit
anderen Worten, je größer oder wertvoller das Objekt deiner
Begierde ist, desto härter musst du normalerweise für sein
Erreichen arbeiten.
Das ist der Grund, warum Erleuchtung als eine unerreichbare,
gewaltige Herausforderung angesehen wird.
Es ist ja schon anstrengend genug, begrenzten Objekten
hinterherzulaufen, deshalb könnte man meinen, dass eine
unendliche Errungenschaft auch unendlich viel Anstrengung
erfordert.
Die gute Nachricht ist jedoch, dass Erleuchtung keine
übermenschliche Anstrengung erfordert.
Um das Selbst zu erreichen, genügt es zu erkennen, dass du das
Selbst bist.
Das ist nicht einmal eine „Errungenschaft“ an sich, sondern
eine bereits erreichte Tatsache. Alles, was erforderlich ist,
ist Wissen. Dieses Wissen nimmt in deinem Geist die Form eines
bestimmten Gedankens, Vritti, an, der deine Selbstignoranz
aufhebt.
Es gibt eine alte Geschichte, die perfekt veranschaulicht, wie
Wissen dein ganzes Leben verändern kann.
Es war einmal ein altes Königreich, in das barbarische Truppen
eindrangen und den König im Kampf niedermetzelten, als er seine
Heimat verteidigte.
Um den neugeborenen Sohn des Königs zu schützen, schmuggelte
ein Diener das Kind aus dem Palast und gab es einer
Bauernfamilie, die in einem weit entfernten Dorf lebte. Die
Familie erklärte sich bereit, den Jungen als ihren eigenen
aufzuziehen und ihm zu seiner eigenen Sicherheit seine
königliche Identität zu verheimlichen.
Einige Jahre vergingen, bis die Männer des Königs die
Eindringlinge stürzten und den Thron zurückeroberten. Die
Adoptiveltern des Jungen waren gestorben und er war inzwischen
ein Teenager, der auf der Straße lebte. Als man ihn bettelnd
fand, erklärte man ihm, dass er eigentlich ein Prinz sei und
dass es an der Zeit sei, nach Hause zurückzukehren, um den
Thron zu besteigen.
Der Junge war verständlicherweise erstaunt. Im Bruchteil einer
Sekunde hatte er sich von einem Bettler in einen Prinzen
verwandelt!
Diese außergewöhnliche Verwandlung hatte keine Anstrengung
seinerseits erfordert. Wenn das Problem Unwissenheit ist, ist
Wissen die einzige Lösung. Alles, was dieser Junge brauchte,
war das Wissen um seinen wahren Status als Prinz und
Thronfolger. Er musste lediglich die Vorstellung loslassen,
dass er ein Bettler sei.
Swami Dayananda betont:
„Was Glück und Erfüllung angeht, so halten wir uns alle für Bettler.Wir betteln immer am Altar des Lebens um Glück und warten darauf, dass das Schicksal uns einen Moment der Freude schenkt. Wir beten oder manipulieren ständig, damit sich irgendeine Situation so günstig gestaltet, dass wir für einen Moment glücklich sind.“
Das gelingt aber nie für länger, denn endliche Objekte können
immer nur endliche Ergebnisse liefern.
Außerdem liegt das Problem nicht darin, dass wir überhaupt je
einen Mangel hatten. Wir nehmen nur an, es mangele uns an
etwas, weil wir unsere wahre Natur nicht kennen. Wir denken,
wir seien Bettler, obwohl wir eigentlich Könige sind.
Die Lösung liegt nicht etwa darin, uns selbst etwas
hinzuzufügen oder zu versuchen, ein besserer und
erfolgreicherer Mensch zu „werden“.
Die Lösung liegt in Selbsterkenntnis.
Vedanta liefert diese Erkenntnis. Die Schriften stellen klar,
dass du das Selbst bist - die Totalität von allem, was ist. Du
bist bereits frei, denn Freiheit ist deine wahre Natur. Dein
Gefühl von Unfreiheit ist nichts weiter als ein aus
Unwissenheit geborener, irreführender Gedanke der
Selbst-Begrenzung.
Es bedarf nur wenig Anstrengung deinerseits, dieses Wissen zu
hören. Alles, was du tun musst, ist, deinen Geist darauf
vorzubereiten, das Wissen zu empfangen. Und du musst so lange
daran glauben, bis du seine Wahrheit selbst bestätigen
kannst.
Der Bettler musste Vertrauen in das haben, was ihm die Leute
des Königs erzählten. Er hätte ja annehmen können, dass es sich
um eine Art grausamen Scherz von ihnen handelte und sich nie
zum Palast begeben, um selbst die Wahrheit zu erkennen.
Hätte er kein Vertrauen in die Aussagen der Königsleute gehabt,
hätte er wahrscheinlich den Rest seines Lebens auf der Straße
verbracht und um Essensreste gebettelt, ohne jemals die
Wahrheit über sein königliches Geburtsrecht zu erfahren.
Ganz ähnlich benötigst du als Selbst-Erforscher in der
Anfangsphase der Belehrungen Glauben.
Wenn du sie von vornherein ablehnst, bist nur du derjenige, der
etwas verliert - und der Verlust ist unendlich, weil das Selbst
unendlich ist. Das „Gewinnen“ des Selbst ist ein unendlicher
Gewinn, und sein „ Verlust“ (durch Unwissenheit) ist ein
unendlicher Verlust.
Bevor man in die Lehre eintaucht, wird ein Vedanta-Lehrer
deutlich machen, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein
müssen. Schließlich braucht man ein solides Fundament, um etwas
zu bauen.
Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir oft schnell
Andere, die Umstände, den Zustand der Welt oder sogar das
Schicksal als Quelle unserer Probleme ausmachen - während der
Feind in Wahrheit immer vor der eigenen Tür zu finden
ist.
Auch wenn wir annehmen, dass unsere Probleme da draußen in der
Welt zu suchen sind, ist Samsara kein Kampf im Äußeren. Krishna
macht deutlich, dass es ein Krieg gegen die Unwissenheit und
das Schlachtfeld der menschliche Geist ist:
„Der Verstand kann dein größtes Kapital oder dein schlimmster Feind sein.“
Deshalb liegt der Schlüssel zur Freiheit in der Meisterung des
Geistes.
Zu lernen, deinen Verstand bzw. Geist für und nicht gegen dich
arbeiten zu lassen, ist essenziell.
Damit das gelingt, musst du, um es mit Krishnas Worten
auszudrücken:
„Hebe dich selbst empor.“
Einige spirituelle Sucher haben die unglückliche Tendenz, ihre
Befreiung bei anderen zu suchen, vielleicht in Form eines
charismatischen Gurus oder Predigers, oder vielleicht in Form
von Verschwörungstheorien, einer Kirche, einer Gemeinschaft
oder sogar einer Sekte.
Die eher tamasischen Sucher neigen zu Bequemlichkeit und
magischem Denken und wollen sich nicht in den Schützengraben
begeben und die harte aber notwendige Arbeit auf sich nehmen,
um das lebenslange ignorante Denken zu überwinden. Eigentlich
wollen sie überhaupt nicht selbst denken und unterscheiden
müssen.
Ein solcher Mensch wird nach jemand anderem suchen, der für sie
denkt - und jeder, der selbstbewusst und charismatisch genug
ist, wird das auch übernehmen. Und wie ein Baby, das sich in
den Armen seiner Mutter sicher fühlt, wird er sich in Bezug auf
seinen Lebensunterhalt und seine Befreiung vollständig auf
diese Person verlassen.
Dies führt jedoch nie zu Befreiung, sondern nur zu größerer
Unfreiheit.
Kein anderer kann dich befreien. Du und nur du allein musst die
Verantwortung für deine eigene Befreiung übernehmen. Wenn du es
nicht schaffst, die Herrschaft über dein
Körper-Geist-Ego-System zu erlangen, wirst du für immer seine
Geisel sein.
Der wahre Feind sitzt im Inneren, und solange der ungebändigte
Geist nicht besiegt ist, ist Moksha unmöglich.
Der erste Schritt in Richtung Befreiung liegt in der
Sicherstellung eines ausreichend qualifizierten Geistes.
Karma-Yoga ist das primäre Mittel, um dies zu erreichen.
Es nützt nichts, sich ein- oder zweimal am Tag hinzusetzen und
zu meditieren, in der vergeblichen Hoffnung, frei zu werden.
Dein gesamtes Leben muss neu ausgerichtet werden, und
Karma-Yoga ist das passende Mittel dafür.
Beim Samsari, der sein Glück in äußeren Objekten und
Erfahrungen sucht, wird das Handeln von seinen Vorlieben und
Abneigungen bestimmt und mit Anhaftung an die Ergebnisse
ausgeführt.
Der Karma-Yogi hingegen wird nicht mehr von dem Wunsch
getrieben, bestimmte materielle Ziele zu erreichen.
Als Karma-Yogi ist dein primäres Ziel Moksha, Freiheit von der
emotionalen Abhängigkeit von Objekten.
Du handelst nicht nach deinen Vorlieben und Abneigungen,
sondern nach dem Dharma. Du tust, was zu tun ist, wenn es zu
tun ist, und widmest jede Handlung Ishvara mit Dankbarkeit und
Hingabe.
Indem du Ishvara als den Spender der Ergebnisse deiner
Handlungen anerkennst, akzeptierst du alle Ergebnisse als
gerechtfertigt und angemessen. Und du nimmst jedes Ergebnis als
Prasada an, als göttliches Geschenk.
Gemeinsam praktiziert, reduzieren Dharma und Karma-Yoga Stress
wie nichts sonst. Gram über die Vergangenheit und Angst vor der
Zukunft schmelzen dahin, wenn du dein Leben nicht mehr nur für
dich selbst lebst, sondern als Geschenk an Ishvara.
Als nach Befreiung Suchender ist dies dein primäres Sadhana
(spirituelle Praxis).
Indem du Handlungen in Übereinstimmung mit Dharma und mit
Karma-Yoga-Mentalität verrichtest, verlieren die Vasanas
allmählich ihre bindende Wirkung. Dies reinigt den Geist und
macht ihn fit für die Befreiung durch die Ausübung der
Selbst-Erkenntnis.
Vedanta ist die ultimative Medizin - das Heilmittel gegen die
Leiden in Samsara.
Dieses Mittel der Erkenntnis, oder Pramana, ist im Wesentlichen
ein Werkzeug, um das Wissen „Ich bin Gewahrsein“ zu erlangen
und zu verinnerlichen.
Dies geschieht in einem dreistufigen systematischen
Prozess.
Es kann keine dieser Stufen oder Phasen übersprungen werden und
sie müssen in der richtigen Reihenfolge durchlaufen
werden.
1. Zuhören (Sravana)
Die erste Stufe wird Sravana genannt, was
„Hören“ bedeutet. Nachdem du den Geist durch die Praxis des
Karma-Yoga im ersten Schritt qualifiziert hast, ist dein
nächster Schritt, einen qualifizierten Vedanta-Lehrer zu finden
und deinen Geist konsequent dem Wissen auszusetzen. Dies
geschieht, indem du deinen Geist von Vorurteilen und
Voreingenommenheit befreist und einfach dem Lehrer zuhörst,
während er oder sie die Lehre von Anfang bis Ende
entfaltet.
2. Reflexion (Manana)
Die Lehre einfach nur zu hören, ist nicht
ausreichend. Selbst ein Papagei kann zuhören und die Worte
wiederholen. Damit Vedanta wirken kann, musst du die Lehre
vollständig verstehen und auf allen Ebenen integrieren. Das
bedeutet, sämtliche Zweifel, Verwirrungen oder mögliche
Missverständnisse mit Hilfe des Lehrers zu klären.
3. Integration (Nididhyasana)
Stufe eins umfasst Worte. Stufe zwei wandelt
diese Worte in Wissen um. Stufe drei wandelt dieses Wissen in
Überzeugungen um. Nididhyasana besteht aus anhaltender
Kontemplation und Reflexion der Lehre. Du weißt nun, dass das
„Ich“ nicht zum Körper-Geist-Ego-System gehört, sondern zu
Gewahrsein, wo alle Formen und Erfahrungen auftauchen. Damit
Selbsterkenntnis zu Moksha führen kann, musst du dir zu eigen
machen, wer du bist, indem du das Wissen „Ich bin Gewahrsein“
vollständig aufnimmst und verinnerlichst.
Vedantische Meditation ist die Kunst, den Geist so
umzukonditionieren, dass er sich mit dem wahren Selbst
identifiziert, reinem Gewahrsein oder Bewusstsein. Indem du
deine Aufmerksamkeit auf deine Natur als Gewahrsein gerichtet
hältst, wird der Geist mühelos in seinen natürlichen Zustand
von Frieden und Vollständigkeit zurückversetzt.
In Panchadasi sagt Vidyaranya Swami:
„Man sollte immer wieder über die Idee 'Ich bin Gewahrsein' meditieren.“
Übereinstimmend heißt es im Yoga Vasistha:
„Dies ist die höchste Meditation, die höchste Verehrung: das kontinuierliche und ununterbrochene Gewahrsein der innewohnenden Präsenz, des inneren Lichts oder des Bewusstseins.“
Auf der ersten Stufe kann man zwar ein intellektuelles
Verständnis der Lehre erlangen, indem man dem Lehrer einfach
zuhört, aber es gibt einen Unterschied zwischen bloßem
Verständnis und verinnerlichtem Wissen.
Es ist nicht ausreichend, einfach nur vom Selbst zu
wissen.
Solange dieses Wissen nicht in jeden Aspekt der Psyche
integriert ist, werden deine alten emotionalen und psychischen
Probleme bestehen bleiben.
Die Früchte der Selbsterkenntnis reifen selten sofort.
Schließlich hast du es mit einem Geist zu tun, der über
Jahrzehnte, ja ganze Lebzeiten hinweg Unwissenheit unterworfen
war.
Die Auswirkungen dieser Unwissenheit, die sich in deinen
Gedanken von Selbstbegrenzung und Selbstablehnung sowie in
Verlangen, Wut, Frustration und Leid zeigen, werden nicht über
Nacht verschwinden.
Bis das Wissen, dass du das Selbst bist, vollständig integriert
ist und zu einer gelebten, atmenden Realität für dich wird,
bleiben diese „Knoten im Herzen“ bestehen.
Es gibt eine Geschichte, die die Bedeutung von Nididhyasana
perfekt veranschaulicht.
Sie handelt von einem Mann, der dachte, er sei ein Wurm.
Dieser ansonsten ganz gewöhnliche Mensch ging durch das Leben
und glaubte, er sei minderwertiger als alle anderen.
Die Vorstellung, er sei ein sich windender Wurm, verursachte
nicht nur große Probleme mit seinem Selbstwertgefühl, sondern
löste in ihm auch eine überwältigende Angst vor Vögeln aus.
Würmer werden nämlich von Vögeln gefressen.
Wann immer er aus dem Haus ging, reichte schon der Hauch von
Vogelgezwitscher, um ihn in Todesangst zu versetzen.
Eines Tages beschloss ein besorgter Freund, dass es nun genug
sei. Er sagte dem Mann, dass er so nicht weitermachen könne und
sich Hilfe holen müsse.
Der Freund machte ein paar Anrufe, ließ ein paar Beziehungen
spielen und brachte den Mann in einer renommierten
psychiatrischen Einrichtung unter.
Dort wurde der Mann hervorragend betreut.
Jeden Tag traf er sich mit einem qualifizierten Psychologen,
der es schließlich schaffte, ihn davon zu überzeugen, dass er
kein Wurm war, sondern ein Mensch wie jeder andere auch.
Es dauerte eine Weile, bis der Mann dies akzeptierte.
Schließlich hatte er ein Leben lang unter seiner
Wahnvorstellung gelitten.
Aber als er die Wahrheit erkannte, überkam ihn ein ungeheures
Gefühl der Erleichterung und Befreiung. Wenn er wirklich ein
Mensch wie jeder andere war, hatte er nichts zu befürchten und
konnte endlich sein Leben genießen!
Am letzten Morgen seines Aufenthaltes bedankte er sich
ausgiebig bei seinem Arzt, Tränen der Dankbarkeit in seinen
Augen.
Dann checkte er aus und trat nach draußen, bereit, die Welt zu
erobern.
Zumindest so lange, bis er in einem nahen Baum einen Vogel
sitzen sah - eine große schwarze Krähe, die ihn stumm
beäugte.
Von blinder Panik überwältigt, stürmte er zurück ins
Krankenhaus und rannte bis zum Büro seines Psychologen.
Er schrie, als er gegen die Tür schlug, sein Herz raste und
seine Haut war von kaltem Schweiß bedeckt.
Der Arzt kam heraus und war erstaunt. „Was ist denn los?“
„Da draußen ist ein Vogel!“ Der Mann schrie, sein ganzer Körper
zitterte. „ Er - er hat mich angeschaut!“
Der Arzt runzelte die Stirn. „Aber das haben wir doch schon oft
genug besprochen. Vor Vögeln brauchen Sie sich nicht mehr zu
fürchten. Sie sind kein Wurm - Sie sind ein Mensch!“
„Sie wissen das“, sagte der Mann, „und ich weiß das - aber der
Vogel weiß das nicht!“
Die Moral der Geschichte ist einfach.
Wenn du dein ganzes Leben damit verbracht hast, auf eine
bestimmte Art und Weise über dich zu denken, wird es Zeit und
Mühe kosten, diese Denkweise zu verändern.
Gewohnheitsmäßige Denkmuster ändern sich selten über Nacht.
Selbst wenn du eine Illusion als solche erkannt hast, können
die Nachwirkungen der Angst und des Leidens noch eine Zeit lang
bestehen bleiben.
Eine weitere hilfreiche Analogie ist unser vorheriges Beispiel
des Prinzen, der sein Leben als Bettler verbracht hatte. Als
die Männer des Königs ihn schließlich finden und ihm sagen, wer
er wirklich ist, wird er plötzlich von einem mittellosen
Bettler zum reichsten Mann im Land.
Obwohl sich seine äußeren Umstände mit einem Schlag verändert
haben, braucht er möglicherweise noch einige Zeit, um seine
alten Denkstrukturen zu überwinden. Innerlich hält er sich
vielleicht immer noch für einen Bettler, für einen mittellosen
Menschen, der sich Sorgen machen muss, woher die nächste
Mahlzeit kommt.
Um dieses Gefühl der Begrenztheit zu überwinden, muss er sich
seinen neuen Status zu eigen machen, indem er über sich als
Prinz und nicht als Bettler nachdenkt.
Das Gleiche gilt, wenn es um Selbst-Erkenntnis geht.
Wenn dein Geist vor dem Sravana, der ersten Phase der Lehre,
nicht schon hoch qualifiziert ist, wirst du nicht sofort die
gesamten Vorzüge der Selbsterkenntnis genießen können.
Höchstwahrscheinlich wirst du immer noch bestimmte Blockaden
und Beeinträchtigungen haben, die dich daran hindern, deine
Natur als grenzenloses, immer freies Gewahrsein
auszukosten.
Aufgrund deines bisherigen Denkens fühlst du dich vielleicht
immer noch armselig, obwohl die Selbsterkenntnis dir in
Wirklichkeit offenbart, dass du der König aller Könige oder die
Königin aller Königinnen bist.
Deshalb ist Nididhyasana ein wichtiger Schritt, der nicht
übersprungen werden darf.
Während die ersten beiden Phasen der Lehre eine begrenzte Dauer
haben, je nach Schüler entweder Monate oder Jahre, hat die
letzte Phase, das Verinnerlichen und Integrieren der Lehre,
keine feste Zeitspanne.
Tatsächlich solltest du Nididhyasana für den Rest deines Lebens
praktizieren.
Dies verhindert, dass sich alte gewohnheitsmäßige
Gedankenmuster wieder durchsetzen und die Erkenntnis vernebeln,
dass du Sat-Chit-Ananda bist: Existenz, Bewusstsein und die
Glückseligkeit der Fülle.
Der erste Aspekt von Nididhyasana ist, zu lernen, dein Leben im
Licht der Selbsterkenntnis zu bewerten.
Deine alten Gewohnheiten, Denkmuster, Werte, Beziehungen,
Aktivitäten und die Art und Weise, wie du mit anderen und der
Welt umgehst, müssen im Licht der Wahrheit überprüft
werden.
Alles, was dir nicht mehr dient oder mit deiner Identität als
das Selbst nicht übereinstimmt - einschließlich adharmischer
Gewohnheiten, die deinem Geist, deinem Körper oder deinen
Sinnen unnötige Unruhe bereiten - sollte ausgemerzt
werden.
Die Art und Weise, wie du lebst, sollte so gut wie möglich ein
Spiegelbild dessen sein, wer du wirklich bist.
Wenn du deine Identität als das Selbst erkennst, wirst du
vielleicht bemerken, dass vieles von dem, was dir vorher
wichtig war - z. B. frühere Ambitionen, Ziele und das
zwanghafte Bedürfnis, etwas zu erreichen und zu bekommen -
einfach von selbst wegfällt.
Warum solltest du weiterhin nach Erfüllung in der Welt suchen,
wenn du die Fülle doch in dir selbst gefunden hast? Ein Jnani
ist jemand, der in sich selbst glücklich ist, nicht wegen
äußerer Faktoren, sondern trotz dieser.
Die zweite Komponente von Nididhyasna ist das Praktizieren der
vedantischen Meditation, also die Kontemplation über das Wissen
„Ich bin Gewahrsein“. Swami Paramarthananda nennt dies die
'Meditation zur Änderung der Selbst-Beurteilung'.
Wenn du zu Vedanta kommst, hast du das Gefühl, ein
minderwertiger, unzulänglicher Jiva zu sein, der den Zwängen
und Leiden von Samsara unterworfen ist.
Vedanta zeigt, dass dies nur eine Überlagerung ist - eine
irrtümliche Annahme, die durch Maya verursacht wird und die
deine wahre Identität als das grenzenlose, ewige Selbst
verschleiert.
Nach und nach erfährst du eine Verschiebung deiner
Identität.
Während du dich vorher mit dem begrenzten
Körper-Geist-Ego-System identifiziert hast, weißt du jetzt,
dass du reines Gewahrsein bist, ewig und immer frei von den
Begrenzungen durch Namen und Formen.
Wie wir jedoch festgestellt haben, wird es wahrscheinlich
einige Zeit dauern, bis diese Neuausrichtung deiner Identität
für dich so selbstverständlich wird, wie deinen Namen
auszuspucken, wenn dich jemand fragt, wer du bist.
Bis es so weit ist, musst du bewusst Selbsterforschung auf
jeden selbstbegrenzenden Gedanken, jede negative
Selbsteinschätzung oder falsche Identifikation anwenden, sobald
sie in deinem Geist auftauchen.
Jedes Mal, wenn du feststellst, dass du dich als Jiva, als ein
bedürftiges, habsüchtiges Ego identifizierst, musst du zur
Wurzel dieser Unwissenheit vordringen und sie durch einen
Gedanken der Wahrheit, einen Gedanken an das Selbst,
ersetzen.
Vedantische Meditation fokussiert deine Aufmerksamkeit auf das
Objekt der Meditation - dein eigenes Selbst.
Du fixierst deinen Geist immer und immer wieder auf die Lehre,
bis die Selbsterkenntnis zur festen Überzeugung wird.
Fortgesetztes und anhaltendes Reflektieren deiner Identität als
das Selbst, als das Feld des Gewahrseins, in dem alle Objekte
und Erfahrungen erscheinen, wird mit der Zeit deine Identität
vom endlichen Jiva zum unendlichen Selbst verlagern.