Teil 12: Selbst-Erkenntnis praktizieren

EINFÜHRUNG IN VEDANTA (RORY MACKAY)

Teil 12: Selbst-Erkenntnis praktizieren - Die 3 Stufen von Vedanta

Wie wir gelernt haben, ist Vedanta weder eine Religion noch eine Philosophie, sondern ein Erkenntnismittel – und zwar für Selbst-Erkenntnis. Wenn Wissen Macht ist, ist Selbst-Erkenntnis Befreiung.


Der König des Wissens

Selbst-Erkenntnis wird oft als Raja Vidya, König des Wissens, bezeichnet, weil sie wie ein König aus sich selbst heraus strahlt und die höchste Autorität im Land ist. Wenn du die wahre Natur des Selbst kennst, dann kennst du nicht nur die Essenz aller Dinge, sondern bist auch von den endlosen Leiden Samsaras befreit.

Keine andere Art von Wissen kann einen solchen Anspruch erheben.

Alle anderen Arten von Wissen beziehen sich lediglich auf die Welt von Mithya (dem scheinbar Realen). Mithya-Wissen ist in seinem Umfang immer begrenzt, weil Mithya von Natur aus begrenzt ist. Es ist der Dualität unterworfen, bedingt durch die klare Trennung von Wissendem und dem Objekt des Wissens.

Außerdem gibt es für Mithya-Wissen kein Ende. Ganz gleich, wie viel man über die objektive Welt lernt, was man weiß, wird immer bei weitem von dem übertroffen, was man nicht weiß. Mithya-Wissen kann immer nur teilweise sein, denn Mithya besteht aus unendlich vielen Teilen.

Wenn es jedoch um Satya geht , das unabhängig Reale, gibt es überhaupt keine Teile, denn das Selbst ist ein ungeteiltes Ganzes. Deshalb ist es unmöglich, nur teilweises Wissen über das Selbst zu haben. Entweder man kennt das Selbst oder man kennt es nicht.

Sobald man es einmal erkannt hat und ein klares Verständnis von Satya und Mithya - der unabhängigen Ursache und der abhängigen Wirkung - hat, erlangt man Wissen von allem, denn alles hat seine Existenz, sein Sein, allein im Selbst.


Warum Vedanta das bestgehütete Geheimnis der Welt ist

In der Bhagavad Gita nennt Krishna dieses Wissen das „größte aller Geheimnisse“. Du fragst dich vielleicht, warum dieses Wissen geheim sein sollte.

Es geht nicht darum, dass es vorsätzlich verheimlicht wird, als Teil einer elitären vedantischen Verschwörung, um die Massen unwissend zu halten! Dieses Wissen war schon immer verfügbar. Es ist nur so, dass die meisten Menschen wenig Wert darauf legen.

Der Durchschnittsmensch ist viel zu sehr damit beschäftigt, Glück, Sicherheit und Freiheit in weltlichen Objekten zu suchen. Hinzu kommen das Streben nach Geld, Macht, Sex, Konsumgütern und die immerwährenden Ablenkungen des alltäglichen Lebens.

Unsere Kultur begrüßt und fördert solche Bestrebungen, und wir fügen uns nur zu gerne.

Kaum jemand erkennt hingegen Moksha, also Befreiung, als legitimes Mittel an, um dauerhaftes Glück zu erlangen. Solange ein Mensch nicht weiß, was Moksha ist und ihm keinen entsprechenden Wert beimisst, wird er seine Aufmerksamkeit, Anstrengung und Lebensenergie anderweitig einsetzen.

Die Lehre von Vedanta wird frei zur Verfügung gestellt, aber wenn du ihren Wert nicht erkennst, wirst du nicht gewillt sein, ihr zu folgen.

Du wirst weiterhin versuchen, jeden noch so kleinen Tropfen Glück aus weltlichen Objekten herauszuquetschen, während du weiterhin die sich selbst erneuernden Frustrationen und Qualen von Samsara erleidest. Das ist, als ob die Lehre von Vedanta in einer Zimmerecke wie ein ungeöffnetes Geschenk herumliegt.

Wenn man einem kleinen Kind die Wahl zwischen einem Schokoriegel und einem Goldbarren anbietet, wird das Kind mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die Schokolade nehmen. Mit einem Goldbarren kann man zwar in Wirklichkeit einen lebenslangen Vorrat an Schokolade kaufen, aber wenn das Kind den Wert des Goldes nicht versteht, wird es einfach keinen Wunsch danach verspüren.

Das Gleiche gilt für Vedanta. Die meisten Menschen streben lieber nach verlockenden, aber begrenzten weltlichen Objekten, weil sie den Wert der Selbsterkenntnis nicht erkennen.

Deshalb bleibt dieses Raja Vidya, das königliche Wissen, das größte aller Geheimnisse.

Nur sehr wenige verstehen seinen Wert. Auch jene, die spirituell veranlagt sind und Erleuchtung suchen, benötigen für Vedanta einen qualifizierten Geist und werden ohne diesen keine Früchte ernten.

Deshalb bestehen die ersten beiden wichtigen Schritte darin, den Wert der Lehre zu erkennen und dann dafür zu sorgen, dass der eigene Geist ausreichend vorbereitet ist, sie zu empfangen.


Der Bettler, der ein Prinz war

Der notwendige Aufwand, um ein Objekt zu bekommen, ist in der Regel proportional zur Größe oder zum Wert des Objekts. Mit anderen Worten, je größer oder wertvoller das Objekt deiner Begierde ist, desto härter musst du normalerweise für sein Erreichen arbeiten.

Das ist der Grund, warum Erleuchtung als eine unerreichbare, gewaltige Herausforderung angesehen wird.

Es ist ja schon anstrengend genug, begrenzten Objekten hinterherzulaufen, deshalb könnte man meinen, dass eine unendliche Errungenschaft auch unendlich viel Anstrengung erfordert.

Die gute Nachricht ist jedoch, dass Erleuchtung keine übermenschliche Anstrengung erfordert.

Um das Selbst zu erreichen, genügt es zu erkennen, dass du das Selbst bist.

Das ist nicht einmal eine „Errungenschaft“ an sich, sondern eine bereits erreichte Tatsache. Alles, was erforderlich ist, ist Wissen. Dieses Wissen nimmt in deinem Geist die Form eines bestimmten Gedankens, Vritti, an, der deine Selbstignoranz aufhebt.

Es gibt eine alte Geschichte, die perfekt veranschaulicht, wie Wissen dein ganzes Leben verändern kann.

Es war einmal ein altes Königreich, in das barbarische Truppen eindrangen und den König im Kampf niedermetzelten, als er seine Heimat verteidigte.

Um den neugeborenen Sohn des Königs zu schützen, schmuggelte ein Diener das Kind aus dem Palast und gab es einer Bauernfamilie, die in einem weit entfernten Dorf lebte. Die Familie erklärte sich bereit, den Jungen als ihren eigenen aufzuziehen und ihm zu seiner eigenen Sicherheit seine königliche Identität zu verheimlichen.

Einige Jahre vergingen, bis die Männer des Königs die Eindringlinge stürzten und den Thron zurückeroberten. Die Adoptiveltern des Jungen waren gestorben und er war inzwischen ein Teenager, der auf der Straße lebte. Als man ihn bettelnd fand, erklärte man ihm, dass er eigentlich ein Prinz sei und dass es an der Zeit sei, nach Hause zurückzukehren, um den Thron zu besteigen.

Der Junge war verständlicherweise erstaunt. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er sich von einem Bettler in einen Prinzen verwandelt!

Diese außergewöhnliche Verwandlung hatte keine Anstrengung seinerseits erfordert. Wenn das Problem Unwissenheit ist, ist Wissen die einzige Lösung. Alles, was dieser Junge brauchte, war das Wissen um seinen wahren Status als Prinz und Thronfolger. Er musste lediglich die Vorstellung loslassen, dass er ein Bettler sei.

Swami Dayananda betont:

„Was Glück und Erfüllung angeht, so halten wir uns alle für Bettler.Wir betteln immer am Altar des Lebens um Glück und warten darauf, dass das Schicksal uns einen Moment der Freude schenkt. Wir beten oder manipulieren ständig, damit sich irgendeine Situation so günstig gestaltet, dass wir für einen Moment glücklich sind.“

Das gelingt aber nie für länger, denn endliche Objekte können immer nur endliche Ergebnisse liefern.

Außerdem liegt das Problem nicht darin, dass wir überhaupt je einen Mangel hatten. Wir nehmen nur an, es mangele uns an etwas, weil wir unsere wahre Natur nicht kennen. Wir denken, wir seien Bettler, obwohl wir eigentlich Könige sind.

Die Lösung liegt nicht etwa darin, uns selbst etwas hinzuzufügen oder zu versuchen, ein besserer und erfolgreicherer Mensch zu „werden“.

Die Lösung liegt in Selbsterkenntnis.

Vedanta liefert diese Erkenntnis. Die Schriften stellen klar, dass du das Selbst bist - die Totalität von allem, was ist. Du bist bereits frei, denn Freiheit ist deine wahre Natur. Dein Gefühl von Unfreiheit ist nichts weiter als ein aus Unwissenheit geborener, irreführender Gedanke der Selbst-Begrenzung.

Es bedarf nur wenig Anstrengung deinerseits, dieses Wissen zu hören. Alles, was du tun musst, ist, deinen Geist darauf vorzubereiten, das Wissen zu empfangen. Und du musst so lange daran glauben, bis du seine Wahrheit selbst bestätigen kannst.

Der Bettler musste Vertrauen in das haben, was ihm die Leute des Königs erzählten. Er hätte ja annehmen können, dass es sich um eine Art grausamen Scherz von ihnen handelte und sich nie zum Palast begeben, um selbst die Wahrheit zu erkennen.

Hätte er kein Vertrauen in die Aussagen der Königsleute gehabt, hätte er wahrscheinlich den Rest seines Lebens auf der Straße verbracht und um Essensreste gebettelt, ohne jemals die Wahrheit über sein königliches Geburtsrecht zu erfahren.

Ganz ähnlich benötigst du als Selbst-Erforscher in der Anfangsphase der Belehrungen Glauben.

Wenn du sie von vornherein ablehnst, bist nur du derjenige, der etwas verliert - und der Verlust ist unendlich, weil das Selbst unendlich ist. Das „Gewinnen“ des Selbst ist ein unendlicher Gewinn, und sein „ Verlust“ (durch Unwissenheit) ist ein unendlicher Verlust.

Hebe dich selbst empor

Bevor man in die Lehre eintaucht, wird ein Vedanta-Lehrer deutlich machen, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Schließlich braucht man ein solides Fundament, um etwas zu bauen.

Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir oft schnell Andere, die Umstände, den Zustand der Welt oder sogar das Schicksal als Quelle unserer Probleme ausmachen - während der Feind in Wahrheit immer vor der eigenen Tür zu finden ist.

Auch wenn wir annehmen, dass unsere Probleme da draußen in der Welt zu suchen sind, ist Samsara kein Kampf im Äußeren. Krishna macht deutlich, dass es ein Krieg gegen die Unwissenheit und das Schlachtfeld der menschliche Geist ist:

„Der Verstand kann dein größtes Kapital oder dein schlimmster Feind sein.“

Deshalb liegt der Schlüssel zur Freiheit in der Meisterung des Geistes.

Zu lernen, deinen Verstand bzw. Geist für und nicht gegen dich arbeiten zu lassen, ist essenziell.

Damit das gelingt, musst du, um es mit Krishnas Worten auszudrücken:

„Hebe dich selbst empor.“


Einige spirituelle Sucher haben die unglückliche Tendenz, ihre Befreiung bei anderen zu suchen, vielleicht in Form eines charismatischen Gurus oder Predigers, oder vielleicht in Form von Verschwörungstheorien, einer Kirche, einer Gemeinschaft oder sogar einer Sekte.

Die eher tamasischen Sucher neigen zu Bequemlichkeit und magischem Denken und wollen sich nicht in den Schützengraben begeben und die harte aber notwendige Arbeit auf sich nehmen, um das lebenslange ignorante Denken zu überwinden. Eigentlich wollen sie überhaupt nicht selbst denken und unterscheiden müssen.

Ein solcher Mensch wird nach jemand anderem suchen, der für sie denkt - und jeder, der selbstbewusst und charismatisch genug ist, wird das auch übernehmen. Und wie ein Baby, das sich in den Armen seiner Mutter sicher fühlt, wird er sich in Bezug auf seinen Lebensunterhalt und seine Befreiung vollständig auf diese Person verlassen.

Dies führt jedoch nie zu Befreiung, sondern nur zu größerer Unfreiheit.

Kein anderer kann dich befreien. Du und nur du allein musst die Verantwortung für deine eigene Befreiung übernehmen. Wenn du es nicht schaffst, die Herrschaft über dein Körper-Geist-Ego-System zu erlangen, wirst du für immer seine Geisel sein.

Der wahre Feind sitzt im Inneren, und solange der ungebändigte Geist nicht besiegt ist, ist Moksha unmöglich.

Karma-Yoga ist die Grundlage

Der erste Schritt in Richtung Befreiung liegt in der Sicherstellung eines ausreichend qualifizierten Geistes.

Karma-Yoga ist das primäre Mittel, um dies zu erreichen.

Es nützt nichts, sich ein- oder zweimal am Tag hinzusetzen und zu meditieren, in der vergeblichen Hoffnung, frei zu werden. Dein gesamtes Leben muss neu ausgerichtet werden, und Karma-Yoga ist das passende Mittel dafür.

Beim Samsari, der sein Glück in äußeren Objekten und Erfahrungen sucht, wird das Handeln von seinen Vorlieben und Abneigungen bestimmt und mit Anhaftung an die Ergebnisse ausgeführt.

Der Karma-Yogi hingegen wird nicht mehr von dem Wunsch getrieben, bestimmte materielle Ziele zu erreichen.

Als Karma-Yogi ist dein primäres Ziel Moksha, Freiheit von der emotionalen Abhängigkeit von Objekten.

Du handelst nicht nach deinen Vorlieben und Abneigungen, sondern nach dem Dharma. Du tust, was zu tun ist, wenn es zu tun ist, und widmest jede Handlung Ishvara mit Dankbarkeit und Hingabe.

Indem du Ishvara als den Spender der Ergebnisse deiner Handlungen anerkennst, akzeptierst du alle Ergebnisse als gerechtfertigt und angemessen. Und du nimmst jedes Ergebnis als Prasada an, als göttliches Geschenk.

Gemeinsam praktiziert, reduzieren Dharma und Karma-Yoga Stress wie nichts sonst. Gram über die Vergangenheit und Angst vor der Zukunft schmelzen dahin, wenn du dein Leben nicht mehr nur für dich selbst lebst, sondern als Geschenk an Ishvara.

Als nach Befreiung Suchender ist dies dein primäres Sadhana (spirituelle Praxis).

Indem du Handlungen in Übereinstimmung mit Dharma und mit Karma-Yoga-Mentalität verrichtest, verlieren die Vasanas allmählich ihre bindende Wirkung. Dies reinigt den Geist und macht ihn fit für die Befreiung durch die Ausübung der Selbst-Erkenntnis.
 

Die 3 Phasen von Vedanta

Vedanta ist die ultimative Medizin - das Heilmittel gegen die Leiden in Samsara.

Dieses Mittel der Erkenntnis, oder Pramana, ist im Wesentlichen ein Werkzeug, um das Wissen „Ich bin Gewahrsein“ zu erlangen und zu verinnerlichen.

Dies geschieht in einem dreistufigen systematischen Prozess.

Es kann keine dieser Stufen oder Phasen übersprungen werden und sie müssen in der richtigen Reihenfolge durchlaufen werden.

1. Zuhören (Sravana)

Die erste Stufe wird Sravana genannt, was „Hören“ bedeutet. Nachdem du den Geist durch die Praxis des Karma-Yoga im ersten Schritt qualifiziert hast, ist dein nächster Schritt, einen qualifizierten Vedanta-Lehrer zu finden und deinen Geist konsequent dem Wissen auszusetzen. Dies geschieht, indem du deinen Geist von Vorurteilen und Voreingenommenheit befreist und einfach dem Lehrer zuhörst, während er oder sie die Lehre von Anfang bis Ende entfaltet.

2. Reflexion (Manana)

Die Lehre einfach nur zu hören, ist nicht ausreichend. Selbst ein Papagei kann zuhören und die Worte wiederholen. Damit Vedanta wirken kann, musst du die Lehre vollständig verstehen und auf allen Ebenen integrieren. Das bedeutet, sämtliche Zweifel, Verwirrungen oder mögliche Missverständnisse mit Hilfe des Lehrers zu klären.

3. Integration (Nididhyasana)

Stufe eins umfasst Worte. Stufe zwei wandelt diese Worte in Wissen um. Stufe drei wandelt dieses Wissen in Überzeugungen um. Nididhyasana besteht aus anhaltender Kontemplation und Reflexion der Lehre. Du weißt nun, dass das „Ich“ nicht zum Körper-Geist-Ego-System gehört, sondern zu Gewahrsein, wo alle Formen und Erfahrungen auftauchen. Damit Selbsterkenntnis zu Moksha führen kann, musst du dir zu eigen machen, wer du bist, indem du das Wissen „Ich bin Gewahrsein“ vollständig aufnimmst und verinnerlichst.

Die Bedeutsamkeit vedantischer Meditation

Vedantische Meditation ist die Kunst, den Geist so umzukonditionieren, dass er sich mit dem wahren Selbst identifiziert, reinem Gewahrsein oder Bewusstsein. Indem du deine Aufmerksamkeit auf deine Natur als Gewahrsein gerichtet hältst, wird der Geist mühelos in seinen natürlichen Zustand von Frieden und Vollständigkeit zurückversetzt.

In Panchadasi sagt Vidyaranya Swami:

„Man sollte immer wieder über die Idee 'Ich bin Gewahrsein' meditieren.“

Übereinstimmend heißt es im Yoga Vasistha:

„Dies ist die höchste Meditation, die höchste Verehrung: das kontinuierliche und ununterbrochene Gewahrsein der innewohnenden Präsenz, des inneren Lichts oder des Bewusstseins.“

Auf der ersten Stufe kann man zwar ein intellektuelles Verständnis der Lehre erlangen, indem man dem Lehrer einfach zuhört, aber es gibt einen Unterschied zwischen bloßem Verständnis und verinnerlichtem Wissen.

Es ist nicht ausreichend, einfach nur vom Selbst zu wissen.

Solange dieses Wissen nicht in jeden Aspekt der Psyche integriert ist, werden deine alten emotionalen und psychischen Probleme bestehen bleiben.

Die Früchte der Selbsterkenntnis reifen selten sofort. Schließlich hast du es mit einem Geist zu tun, der über Jahrzehnte, ja ganze Lebzeiten hinweg Unwissenheit unterworfen war.

Die Auswirkungen dieser Unwissenheit, die sich in deinen Gedanken von Selbstbegrenzung und Selbstablehnung sowie in Verlangen, Wut, Frustration und Leid zeigen, werden nicht über Nacht verschwinden.

Bis das Wissen, dass du das Selbst bist, vollständig integriert ist und zu einer gelebten, atmenden Realität für dich wird, bleiben diese „Knoten im Herzen“ bestehen.

Der Mann, der dachte, er sei ein Wurm

Es gibt eine Geschichte, die die Bedeutung von Nididhyasana perfekt veranschaulicht.

Sie handelt von einem Mann, der dachte, er sei ein Wurm.

Dieser ansonsten ganz gewöhnliche Mensch ging durch das Leben und glaubte, er sei minderwertiger als alle anderen.

Die Vorstellung, er sei ein sich windender Wurm, verursachte nicht nur große Probleme mit seinem Selbstwertgefühl, sondern löste in ihm auch eine überwältigende Angst vor Vögeln aus. Würmer werden nämlich von Vögeln gefressen.

Wann immer er aus dem Haus ging, reichte schon der Hauch von Vogelgezwitscher, um ihn in Todesangst zu versetzen.

Eines Tages beschloss ein besorgter Freund, dass es nun genug sei. Er sagte dem Mann, dass er so nicht weitermachen könne und sich Hilfe holen müsse.

Der Freund machte ein paar Anrufe, ließ ein paar Beziehungen spielen und brachte den Mann in einer renommierten psychiatrischen Einrichtung unter.

Dort wurde der Mann hervorragend betreut.

Jeden Tag traf er sich mit einem qualifizierten Psychologen, der es schließlich schaffte, ihn davon zu überzeugen, dass er kein Wurm war, sondern ein Mensch wie jeder andere auch.

Es dauerte eine Weile, bis der Mann dies akzeptierte. Schließlich hatte er ein Leben lang unter seiner Wahnvorstellung gelitten.

Aber als er die Wahrheit erkannte, überkam ihn ein ungeheures Gefühl der Erleichterung und Befreiung. Wenn er wirklich ein Mensch wie jeder andere war, hatte er nichts zu befürchten und konnte endlich sein Leben genießen!

Am letzten Morgen seines Aufenthaltes bedankte er sich ausgiebig bei seinem Arzt, Tränen der Dankbarkeit in seinen Augen.

Dann checkte er aus und trat nach draußen, bereit, die Welt zu erobern.

Zumindest so lange, bis er in einem nahen Baum einen Vogel sitzen sah - eine große schwarze Krähe, die ihn stumm beäugte.

Von blinder Panik überwältigt, stürmte er zurück ins Krankenhaus und rannte bis zum Büro seines Psychologen.

Er schrie, als er gegen die Tür schlug, sein Herz raste und seine Haut war von kaltem Schweiß bedeckt.

Der Arzt kam heraus und war erstaunt. „Was ist denn los?“

„Da draußen ist ein Vogel!“ Der Mann schrie, sein ganzer Körper zitterte. „ Er - er hat mich angeschaut!“

Der Arzt runzelte die Stirn. „Aber das haben wir doch schon oft genug besprochen. Vor Vögeln brauchen Sie sich nicht mehr zu fürchten. Sie sind kein Wurm - Sie sind ein Mensch!“

„Sie wissen das“, sagte der Mann, „und ich weiß das - aber der Vogel weiß das nicht!“


Die Moral der Geschichte ist einfach.

Wenn du dein ganzes Leben damit verbracht hast, auf eine bestimmte Art und Weise über dich zu denken, wird es Zeit und Mühe kosten, diese Denkweise zu verändern.

Gewohnheitsmäßige Denkmuster ändern sich selten über Nacht. Selbst wenn du eine Illusion als solche erkannt hast, können die Nachwirkungen der Angst und des Leidens noch eine Zeit lang bestehen bleiben.

Eine weitere hilfreiche Analogie ist unser vorheriges Beispiel des Prinzen, der sein Leben als Bettler verbracht hatte. Als die Männer des Königs ihn schließlich finden und ihm sagen, wer er wirklich ist, wird er plötzlich von einem mittellosen Bettler zum reichsten Mann im Land.

Obwohl sich seine äußeren Umstände mit einem Schlag verändert haben, braucht er möglicherweise noch einige Zeit, um seine alten Denkstrukturen zu überwinden. Innerlich hält er sich vielleicht immer noch für einen Bettler, für einen mittellosen Menschen, der sich Sorgen machen muss, woher die nächste Mahlzeit kommt.

Um dieses Gefühl der Begrenztheit zu überwinden, muss er sich seinen neuen Status zu eigen machen, indem er über sich als Prinz und nicht als Bettler nachdenkt.

Das Gleiche gilt, wenn es um Selbst-Erkenntnis geht.

Wenn dein Geist vor dem Sravana, der ersten Phase der Lehre, nicht schon hoch qualifiziert ist, wirst du nicht sofort die gesamten Vorzüge der Selbsterkenntnis genießen können.

Höchstwahrscheinlich wirst du immer noch bestimmte Blockaden und Beeinträchtigungen haben, die dich daran hindern, deine Natur als grenzenloses, immer freies Gewahrsein auszukosten.

Aufgrund deines bisherigen Denkens fühlst du dich vielleicht immer noch armselig, obwohl die Selbsterkenntnis dir in Wirklichkeit offenbart, dass du der König aller Könige oder die Königin aller Königinnen bist.


Wie man Nididhyasana praktiziert

Deshalb ist Nididhyasana ein wichtiger Schritt, der nicht übersprungen werden darf.

Während die ersten beiden Phasen der Lehre eine begrenzte Dauer haben, je nach Schüler entweder Monate oder Jahre, hat die letzte Phase, das Verinnerlichen und Integrieren der Lehre, keine feste Zeitspanne.

Tatsächlich solltest du Nididhyasana für den Rest deines Lebens praktizieren.

Dies verhindert, dass sich alte gewohnheitsmäßige Gedankenmuster wieder durchsetzen und die Erkenntnis vernebeln, dass du Sat-Chit-Ananda bist: Existenz, Bewusstsein und die Glückseligkeit der Fülle.

Der erste Aspekt von Nididhyasana ist, zu lernen, dein Leben im Licht der Selbsterkenntnis zu bewerten.

Deine alten Gewohnheiten, Denkmuster, Werte, Beziehungen, Aktivitäten und die Art und Weise, wie du mit anderen und der Welt umgehst, müssen im Licht der Wahrheit überprüft werden.

Alles, was dir nicht mehr dient oder mit deiner Identität als das Selbst nicht übereinstimmt - einschließlich adharmischer Gewohnheiten, die deinem Geist, deinem Körper oder deinen Sinnen unnötige Unruhe bereiten - sollte ausgemerzt werden.

Die Art und Weise, wie du lebst, sollte so gut wie möglich ein Spiegelbild dessen sein, wer du wirklich bist.

Wenn du deine Identität als das Selbst erkennst, wirst du vielleicht bemerken, dass vieles von dem, was dir vorher wichtig war - z. B. frühere Ambitionen, Ziele und das zwanghafte Bedürfnis, etwas zu erreichen und zu bekommen - einfach von selbst wegfällt.

Warum solltest du weiterhin nach Erfüllung in der Welt suchen, wenn du die Fülle doch in dir selbst gefunden hast? Ein Jnani ist jemand, der in sich selbst glücklich ist, nicht wegen äußerer Faktoren, sondern trotz dieser.

Die zweite Komponente von Nididhyasna ist das Praktizieren der vedantischen Meditation, also die Kontemplation über das Wissen „Ich bin Gewahrsein“. Swami Paramarthananda nennt dies die 'Meditation zur Änderung der Selbst-Beurteilung'.

Wenn du zu Vedanta kommst, hast du das Gefühl, ein minderwertiger, unzulänglicher Jiva zu sein, der den Zwängen und Leiden von Samsara unterworfen ist.

Vedanta zeigt, dass dies nur eine Überlagerung ist - eine irrtümliche Annahme, die durch Maya verursacht wird und die deine wahre Identität als das grenzenlose, ewige Selbst verschleiert.

Nach und nach erfährst du eine Verschiebung deiner Identität.

Während du dich vorher mit dem begrenzten Körper-Geist-Ego-System identifiziert hast, weißt du jetzt, dass du reines Gewahrsein bist, ewig und immer frei von den Begrenzungen durch Namen und Formen.

Wie wir jedoch festgestellt haben, wird es wahrscheinlich einige Zeit dauern, bis diese Neuausrichtung deiner Identität für dich so selbstverständlich wird, wie deinen Namen auszuspucken, wenn dich jemand fragt, wer du bist.

Bis es so weit ist, musst du bewusst Selbsterforschung auf jeden selbstbegrenzenden Gedanken, jede negative Selbsteinschätzung oder falsche Identifikation anwenden, sobald sie in deinem Geist auftauchen.

Jedes Mal, wenn du feststellst, dass du dich als Jiva, als ein bedürftiges, habsüchtiges Ego identifizierst, musst du zur Wurzel dieser Unwissenheit vordringen und sie durch einen Gedanken der Wahrheit, einen Gedanken an das Selbst, ersetzen.

Vedantische Meditation fokussiert deine Aufmerksamkeit auf das Objekt der Meditation - dein eigenes Selbst.

Du fixierst deinen Geist immer und immer wieder auf die Lehre, bis die Selbsterkenntnis zur festen Überzeugung wird.

Fortgesetztes und anhaltendes Reflektieren deiner Identität als das Selbst, als das Feld des Gewahrseins, in dem alle Objekte und Erfahrungen erscheinen, wird mit der Zeit deine Identität vom endlichen Jiva zum unendlichen Selbst verlagern.