Teil 4: Samsara

EINFÜHRUNG IN VEDANTA (RORY MACKAY)

Teil 4: Samsara und wie man dem Rad des Leidens entkommt

"Der Tanz von Samsara ist ein Tanz ständiger Frustration und ständigen Leidens."

- Rory B. Mackay-



Im ersten Artikel dieser Reihe haben wir die vier Arten menschlichen Strebens untersucht: das Streben nach Reichtum, Vergnügen, Tugend und Befreiung.

Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass, was auch immer du im Leben suchst, ob Ruhm, Reichtum oder schnelle Autos, es letztendlich immer auf den Wunsch hinausläuft, frei von Begrenzungen zu sein.

Jedes Verlangen ist letztlich ein Verlangen nach Befreiung.

Doch anstatt Befreiung oder Moksha direkt zu suchen, lassen wir uns von der Überzeugung täuschen, dass das Glück nur außerhalb von uns, in der Welt der Objekte, zu finden ist. Und so beschränkt sich unsere Suche nach Glück auf die Welt der Objekte, Menschen und Umstände.

Das Problem ist: Das funktioniert einfach nicht!

Da das Leben ist, was es ist - ein Nullsummenspiel - kannst du sicher sein, dass mit der Suche nach weltlichen Objekten immer Leiden verbunden ist.

Zunächst einmal ist es mit Schmerz und Anstrengung verbunden, das Objekt deiner Begierde zu erlangen. Dann kommt der Kampf, es bewahren zu müssen. Und schließlich folgt der Kummer, wenn man es irgendwann verliert.

Die Quintessenz ist folgende: Nichts auf dieser Welt kann dauerhaftes Glück bringen.

Das liegt daran, dass alle Objekte in Maya (der phänomenalen Realität) begrenzt und zeitgebunden sind. Selbst Dinge, die relativ ewig erscheinen, wie die Sterne und Galaxien, sind einer langsamen Spirale von Verfall und Tod unterworfen.

Ein Leben, das damit zugebracht wird, Glück und Vollständigkeit in einer Welt zu suchen, die dies niemals bieten kann, ist ein verschwendetes Leben.

Die Sorgen sind endlos für eine solche Seele.

Dieser Zwang, nach Objekten zu streben, in der Hoffnung, aus ihnen Glück, Freiheit und Ganzheit zu erlangen, wird Samsara genannt. Das Rad von Samsara ist ein nie endender Kreislauf von Mangel, Verlangen, Anhaftung und Leid.

Darin liegt das Grundleiden der Menschheit. Es ist ein Leiden, von dem praktisch jedes menschliche Wesen auf diesem Planeten betroffen ist.

Samsara steht für eine falsche Erwartung, für ein unangebrachtes Suchen. Von Maya getäuscht, sucht der Samsari Beständigkeit in der Welt des Unbeständigen, Erfüllung im Endlichen und Glück in etwas, das dieses Glück immer nur zusammen mit einem gleich großen Maß an Leid bringen kann.

Wir wollen jetzt untersuchen, wie es dazu kommt.


Ein grundlegendes Gefühl des Mangels

Die Basis von Samsara ist immer ein Gefühl des Mangels. Diejenigen, die sich in sich selbst vollständig und vollkommen fühlen, haben wenig Wünsche. Was gibt es denn zu wünschen, wenn du weißt, dass du die Quelle deines eigenen Glücks bist?

Das grundlegende menschliche Problem besteht darin, dass wir zwar alle wissen, dass wir sind, aber nicht wissen, wer wir sind.

Dies ist ein universelles Problem, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Einkommen oder sozialem Status. Wir alle wissen, dass wir existieren, aber wir haben einen grundlegenden Mangel an Wissen bezüglich unserer innewohnenden Natur und Identität.

Swami Dayananda sagt:

„Die Herrlichkeit des Menschen liegt darin, dass er sich seiner selbst bewusst ist. Das Selbst, dessen er sich bewusst ist, ist jedoch kein vollständiges, ausreichendes Selbst. Es ist leider ein mangelhaftes, unzulängliches Selbst.“

Weil du das Scheinbare für real und dich für eine begrenzte Körper-Geist-Einheit hältst, empfindest du ein großes Gefühl des Mangels.

Dieses Gefühl des Mangels wird Dukkha genannt, was „Unbefriedigtsein“ bedeutet.

Ob deine persönlichen Umstände nun gut oder schlecht sind, Körper, Geist und Ego sind von Natur aus immer begrenzt. Sie werden immer vom Schreckgespenst ihres eigenen unausweichlichen Untergangs heimgesucht.

Als Folge dieses grundlegenden Gefühls von Mangel, Begrenzung und Unzulänglichkeit versuchst du verzweifelt, dein Leben so gut du kannst zu kontrollieren. Der Verstand wird dadurch zu einem brodelnden Kessel voller Bedürfnisse und Wünsche. Eine endlose Anzahl von Vorlieben und Abneigungen, Begierden und Widerständen treibt deine gesamte Psyche an.

Ein Mensch kann nur das wollen, von dem er das Gefühl hat, es fehle ihm. Deshalb sind seine Wünsche umso stärker, je größer das Gefühl der Selbstbegrenzung ist.

Aber das Problem ist: Egal, wie sehr man sich bemüht und wie viel man bekommt, es ist nie genug. Es reicht nie aus, um das grundlegende Gefühl des Mangels und der Unvollständigkeit aufzulösen, das von dir als dein Wesenskern empfunden wird.

Solange man sich nicht mit der Ursache des Problems befasst - Dukkha und dem Glauben bzw. der Annahme, dass man ein unzulängliches und begrenztes Ego ist - ist es unmöglich, Samsara, dem Strudel des Leidens, zu entkommen. Man wird immer wieder nach unten gezogen, wieder und immer wieder.


Anhaftung, Sorge und Täuschung

Aus dem Gefühl der Selbstbegrenzung ergeben sich drei weitere Faktoren, die Samsara bewirken:

1. Raga (bindendes Begehren/Anhaftung)

Raga entsteht aus deinem Gefühl der Unvollständigkeit. Da es dein innigster Wunsch ist, vollkommen und vollständig zu sein, suchst du aktiv nach Objekten und Umständen, von denen du glaubst, sie würden dich vervollständigen, erfüllen.

Das Wort „Wunsch“ ist keine adäquate Übersetzung für Raga. Raga bezieht sich auf jene hartnäckigen, fesselnden Wünsche, die die Grundlage für emotionale Anhaftungen und psychische Abhängigkeiten bilden.

Diese Anhaftungen sind immer egozentrischer Natur. Wenn du von Raga getrieben bist, geht es dir in erster Linie darum, deine eigenen emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Du bist dann bestrebt, alles aus Menschen, Beziehungen oder Situationen herauszuholen, was du als notwendig für dein Glück erachtest. Es kümmert dich dabei häufig nicht wirklich, wem du dabei auf die Zehen treten musst oder ob du gegen Dharma verstößt.

2. Shoka (Kummer)

Raga führt unweigerlich zu Shoka, was soviel wie Kummer bedeutet.

Die emotionale Abhängigkeit von äußeren Faktoren für das eigene Glück ist das Gegenteil von Freiheit.

Wer sich beim Gehen auf Krücken stützt, fühlt sich vielleicht sicher, aber es ist eine trügerische Sicherheit. Sobald diese Krücken weggenommen werden, ist ein Sturz unvermeidlich. Der Verlust einer psychischen Krücke, ob es sich nun um eine Beziehung, einen Job oder einen geliebten Besitz handelt, wird schreckliches Leid verursachen. Je größer die Anhaftung, desto schlimmer der Kummer.

Swami Paramarthananda betont: „Jede Anhaftung bedeutet potenziellen Kummer.“

3. Moha (Täuschung)

Kummer und Wut führen mit der Zeit zu Moha (Täuschung/Verblendung).

Wenn dein Geist von Anhaftung überwältigt wird, kannst du nicht klar sehen.

Du kannst nicht mehr zwischen richtig und falsch unterscheiden, zwischen dem, was du tun solltest und dem, was du nicht tun solltest. Bevor du es merkst, führst du ein adharmisches Leben. Je adharmischer du wirst, desto mehr leidest du selbst und desto mehr Leid fügst du letztlich anderen zu.

Das grundlegende Gefühl der Unzulänglichkeit, das dem Rad von Samsara den ersten Schub gegeben hat, wird immer stärker - und das Rad dreht sich immer weiter und weiter.

Der Tanz von Samsara ist ein Tanz ständiger Frustration und ständigen Leidens.

Du findest dich dabei in der ständigen Ausübung von Handlungen wieder, von denen du glaubst, sie würden Glück und Vollständigkeit schenken. Bedauerlicherweise ist nichts auf dieser Welt in der Lage, dauerhaftes Glück zu schenken. Auch das Erreichen des Begehrten ist wie eine bittere Pille, die man schlucken muss, denn angesichts der Tatsache, dass sich alles in dieser Welt in ständigem Fluss befindet, sind Objekte nicht in der Lage, dauerhaftes Glück zu bewirken.

Doch aufgrund von Unwissenheit und dem Momentum, der Schwungkraft vergangener Handlungen zwingen die Vasanas (unterschwellige Tendenzen oder psychologische Zwänge) dich dazu, weiter das Ende des Regenbogens zu suchen, in der Hoffnung, schließlich deinen Goldschatz zu finden.

Unglücklicherweise hält dich das nur in immer größeren Spiralen von Anhaftung, Kummer und Täuschung gefangen. Wenn sich das Rad von Samsara erst einmal dreht, erscheint es fast unmöglich, es wieder zu verlassen.


Umerziehung des Geistes

Wir gehen tendenziell immer davon aus, dass unsere äußeren Umstände der Grund für unseren Kummer sind.

Schwierigkeiten im Außen, oder wie Swami Dayananda es nennt, „aktuelle Probleme“, sind jedoch nur nebensächlich. Sie kommen und gehen. In dem Moment, in dem man ein Problem löst, kommt ein anderes zum Vorschein.

Die wirkliche Ursache für deinen Kummer - das fundamentale Problem - liegt immer bei dir selbst.

Während sich aktuelle Probleme von Mensch zu Mensch unterscheiden, ist das Problem von Samsara im Grunde für alle Menschen dasselbe.

Dieses universelle Problem geht mit einer universellen Lösung einher. Im Gegensatz zu den aktuellen Problemen des Lebens gibt es für Samsara eine Einheitslösung für alle.

Das Problem beruht seit jeher auf fehlerhaftem Denken. Samsara entsteht im Geist und zwar mit dieser falschen Vorstellung davon, wer du zu bist und was du glaubst, zu brauchen, um glücklich und vollständig zu sein.

Ein Problem kann man nur dann lösen, wenn man es auf der eigentlichen Ebene des Problems angeht. Der Versuch, aus Samsara herauszukommen, indem man die äußeren Umstände seines Lebens umgestaltet, wird keinerlei Wirkung haben. Du kannst eine schmerzende Schulter nicht heilen, indem du deinen Zeh mit Salbe einschmierst. Du musst das Problem bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen und es dann auf dieser Ebene angehen.

Das Problem entsteht im Verstand, und nur dort kann es gelöst werden.

Die Ursache von Samsara ist Selbstignoranz, das Missverstehen der Natur des Selbst.

Diese Unwissenheit manifestiert sich als ein grundlegendes Gefühl von Mangel und Begrenzung. Das Wesen, das du für dich selbst hältst, ist kein vollständiges, vollkommenes Selbst. Es ist vielmehr ein unvollständiges, mangelhaftes, unzulängliches Selbst. Da niemand mit einem solchen Selbst glücklich sein kann, entsteht der Kreislauf von Begehren, Anhaftung, Kummer und Täuschung.

Der Ausweg aus Samsara liegt also in einer Umerziehung des Geistes.


Du bist das Problem und du bist die Lösung

Es gibt vier Stufen, um jedes Problem zu lösen.

Zunächst einmal musst du dir des Problems bewusst sein.

Sobald du das Problem erkannt hast, wirst du höchstwahrscheinlich versuchen, es alleine zu lösen.

Meistens wird das einfach nicht funktionieren. Der Verstand neigt natürlicherweise zu der Annahme, dass seine Probleme durch äußere Umstände verursacht werden. Also beginnst du sofort damit zu versuchen, die äußeren Bedingungen deines Lebens zu verändern. Vielleicht bemühst du dich um einen neuen Job, ein neues Haus oder einen neuen Partner. Du änderst deine Frisur, kaufst neue Kleider, buchst vielleicht einen Urlaub oder schreibst dich an einer Hochschule ein.

Leider bleibt das Grundproblem bestehen, egal wie sehr du versuchst, die äußeren Bedingungen deines Lebens zu verändern. Du kannst allen Reichtum, alle Gesundheit und allen Erfolg der Welt haben und dich innerlich immer noch leer und elend fühlen.

Wenn das der Fall ist, musst du dir irgendwann eingestehen, dass nicht „dein Leben“ das Problem ist.

Das Problem bist du.

Niemand gibt gerne zu, dass er die Quelle seiner eigenen Probleme ist. Aber wenn du das Problem bist, bist du auch die Lösung.

Wenn das eigentliche Problem entdeckt worden ist und du erkennst, dass du es nicht selbst lösen kannst, ist der nächste Schritt, deine Hilflosigkeit zuzugeben und jemanden zu finden, der helfen kann.

Hier kommt Vedanta ins Spiel.

Vedanta beschreibt zunächst das Problem - das Leiden an Samsara, das durch mangelnde Selbsterkenntnis verursacht wird.

Dann enthüllt es das Heilmittel: Selbsterkenntnis.

Vedanta ist ein Pramana, ein Mittel zur Selbsterkenntnis. Die Anwendung des Heilmittels erfolgt, indem man die Lehre anhört und sie in Form von Reflexion, Kontemplation und Selbsterforschung in die Praxis umsetzt.

Der nächste Artikel in dieser Reihe wird dich durch den Prozess der Selbsterforschung führen, der zur Selbsterkenntnis und zur Befreiung vom Leiden in Samsara führt.