Teil 5: Wer bist du?

EINFÜHRUNG IN VEDANTA (RORY MACKAY)

Teil 5: Wer bist du? Wie man vedantische Selbsterforschung praktiziert

Im vorangegangenen Artikel „Samsara und wie man dem Rad des Leidens entkommt“ wurde dargelegt, dass der Großteil menschlichen Leidens weniger auf unsere äußeren Probleme - die vielfältig und unterschiedlich sind - als auf ein grundlegendes Leiden universellerer Natur zurückzuführen ist.

Dieses Leiden entsteht durch Samsara.

Samsara wurzelt in fehlerhaftem Denken - in der Verkennung dessen, wer und was wir sind. Wir haben eine Reihe falscher Vorstellungen darüber, wer wir sind und was wir brauchen, um glücklich und vollständig zu sein. Dadurch wird unser Leben von einem Gefühl des Mangels und dem verzweifelten Verlangen bestimmt, diesen Mangel zu überwinden.

Je stärker dieses Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit ist, desto größer werden unsere Sehnsüchte.

Dies führt dazu, dass wir schließlich unaufhörlich Objekten hinterherlaufen, den Dingen, von denen wir glauben, dass sie uns vervollkommnen werden. Aber das tun sie nie. Wir verbringen unser Leben damit, zu BEKOMMEN und zu WERDEN. Wir streben danach, für andere und damit auch für uns selbst akzeptabel zu werden.

Das Problem ist allerdings, dass Freude niemals im Objekt unseres Strebens zu finden ist.

Wir glauben dies, weil wir uns, wenn wir bekommen, was wir wollen, vorübergehend glücklich, vollständig und zufrieden fühlen.

Aber entspringt dieses Glück dem Objekt?

Wenn es so wäre, würde dieses Objekt immer die gleiche Menge an Freude bringen, und es würde einem jeden diese Freude schenken.

Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Was dem Einen Freude macht, kann dem Anderen Kummer bereiten. Wie James Swartz humorvoll feststellt: „Eine Oma, die Socken und Wollmützen für ihre Enkelkinder strickt, wird am Bungee-Springen keinen Spaß haben. Kannst du dir vorstellen, wie die Oma am Rand einer Brücke steht und Bungee-Seile an ihren Beinen befestigt sind? Und wie glücklich wird ihr pubertierender Enkel, der es liebt, von Brücken zu springen, beim Sockenstricken sein?“

Glück scheint Objekten zu entspringen, da man eine Woge von Glück erfährt, wenn man das Objekt seiner Begierde erreicht hat. Dieses Glück wird aber nicht durch das Objekt selbst hervorgerufen, sondern durch das Ende des Verlangens nach diesem Objekt.

Verlangen, das in einem Gefühl eines mangelhaften Selbst verwurzelt ist, entsteht durch Schmerz. Die Befreiung von diesem Schmerz - das Aufhören des Verlangens - erlaubt es der Glückseligkeit und der Freude, die dein eigener natürlicher Zustand sind, deinen Geist zu überfluten. Vielleicht bist du nicht ganz davon überzeugt, dass Freude und Glückseligkeit deiner eigenen Natur entsprechen. Sicherlich kommt es dir nicht so vor. Aber wenn du mir weiter folgst, werde ich dir das schließlich beweisen.

Im vorhergehenden Artikel haben wir auch gesehen, dass alle objektbezogenen Freuden unweigerlich mit Schmerz verbunden sind. Am Erreichen des Objekts der Begierde sind drei Arten von Schmerz beteiligt: der Schmerz, es erreichen zu müssen, der Kampf, es dann zu bewahren und an ihm festzuhalten, und schließlich der schlimmste Schmerz von allen, der Schmerz des letztendlichen Verlusts.

Das ist die Zwickmühle von Samsara. Du fühlst ein grundlegendes Gefühl des Mangels und der Unvollständigkeit in dir, was dich dazu treibt, äußeren Objekten und Vergnügungen nachzujagen in der Hoffnung, dauerhaftes Glück, Freude und Vollkommenheit zu finden. Doch leider führen all diese Freuden unweigerlich zu Bitterkeit und bleiben selten für lange Zeit befriedigend.

Der samsarische Geist ist in einem Kreislauf von Mangel, Verlangen, Anhaftung, Leid und Täuschung gefangen.

Vedanta behauptet, die Wurzel dieses Problems sei Unwissenheit - genauer gesagt: Selbstignoranz, die Unwissenheit bezüglich des eigenen Selbst.

Du hältst dich selbst für einen mangelhaften, begrenzten und unzureichenden kleinen Menschen, dessen ständiger Begleiter der Kummer ist.

Der einzige Ausweg aus diesem Problem besteht darin, dieses grundlegende Missverständnis in Frage zu stellen, und das geschieht durch die Praxis der Selbsterforschung.


Ist Leiden deine Natur?

Zunächst müssen wir uns fragen, woher all das Leiden kommt.

Wenn du im Leben viel Leid erfährst, ist das dann gleichbedeutend damit, dass du ein leidender Mensch bist?

Entspringt dieses Leid dem eigenen Selbst oder rührt es von etwas anderem her?

Wenn Leid dem Selbst innewohnen würde, dann gäbe es keine Möglichkeit einer Lösung dafür. Die Natur einer Sache kann nicht verändert werden. Wenn Leiden also deine Natur IST, solltest du dich besser daran gewöhnen, denn das Leiden wird für immer bei dir bleiben!

Leiden kann allerdings nicht deine Natur sein.

Wäre es natürlich für dich, dann wäre es kein Problem. Vielmehr würdest du es freudig akzeptieren.

Nur wenn etwas unnatürlich ist, wollen wir uns davon befreien. So wie der physische Körper versucht, Giftstoffe und Fremdkörper auszuscheiden, so wollen wir auch alles loswerden, was für uns unnatürlich ist. Und in diesem Fall sind das Gefühle von Leid und Begrenzung.

Wenn dieses Leid zu deiner Natur gehören würde, würdest du es nicht loswerden wollen. Du kannst also nicht die Quelle deines Leids sein.


Die zwei Kategorien der Existenz

Vedanta unterscheidet zwei Kategorien der Existenz:

Atma (das Selbst) und Anatma (das Nicht-Selbst).

Kurz gesagt, es gibt Gewahrsein (das Wissende) und die verschiedenen Objekte (das Gewusste), die in Gewahrsein erscheinen.

(Tatsächlich wird Anatma später negiert, und es wird nachgewiesen, dass nur Atma existiert, andernfalls wäre Vedanta eine dualistische Philosophie. Diese vorläufige Annahme einer Subjekt/Objekt-Dualität ist ein notwendiger Teil der Lehre).

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Ordnungen der Wirklichkeit ist die Essenz von Vedanta und der Schlüssel zur Befreiung.

Die grundlegende Verwirrung und damit die Wurzel unseres Leidens ist die Unfähigkeit, zwischen diesen beiden Ordnungen zu unterscheiden.

Wenn Atma (das Selbst) nicht die Quelle deines Leidens ist, muss es dann nicht ganz sicher Anatma sein?

Die Bhagavad Gita ist die Geschichte von Arjuna, einem Krieger am Rande einer Schlacht, der von Zweifel und Verzweiflung überwältigt seine Waffen niederlegt.

Er wendet sich an seinen Mentor, den göttlichen Krishna, der ihm daraufhin sagt: „Dein Kummer ist fehl am Platz“. Das ursprüngliche Sanskrit, aśocyān anvaśocastväm, bedeutet wörtlich: „Du trauerst um etwas, das keine Trauer verdient.“

Krishna erklärt damit, dass Arjunas Trauer unberechtigt ist. Ein Problem kann nur dann gelöst werden, wenn es ein berechtigtes Problem ist. Wenn ich fälschlicherweise glaube, ich hätte eine bestimmte Krankheit, kann ich nicht davon geheilt werden. Ich kann nicht davon geheilt werden, weil ich sie gar nicht habe! Alles, was ich habe, ist ein Irrglaube, eine Überlagerung.

Heilung kann nur dann funktionieren, wenn sie der gleichen Ordnung der Realität angehört wie das Problem. Wenn ich ein körperliches Problem habe, wird eine Heilung in der Vorstellung nicht funktionieren. Wenn ich ein eingebildetes Problem habe, wird genauso wenig eine physische Heilung funktionieren. Ich kann meine eingebildete Krankheit nur heilen, indem ich die Überlagerung auflöse, die sie scheinbar verursacht hat.

Krishna enthüllt, dass Arjunas Problem von einer ähnlichen Natur ist. Arjunas Leiden entspricht dem grundlegenden Leiden der Menschheit. Leid wird Atma, dem Selbst, aufgrund von Unwissenheit überlagert, aufgrund des Nicht-Erkennens der wahren Natur des Selbst.

Wenn das Leiden nur auf Verwirrung und dem Nicht-Verstehen unserer Natur beruht, dann wird es nicht wirklich durch Anatma, die äußeren Bedingungen, verursacht. Wie mein eingebildeter Gesundheitszustand werden mein Leiden und meine Trauer durch Unwissenheit und sonst nichts verursacht.



Selbst-Ignoranz - Unkenntnis des Selbst

Menschen werden unwissend geboren.

Bei der Geburt kennt man nicht einmal seine eigene Mutter und Vater. Du weißt nichts über die Welt, deine Umgebung oder dich selbst.

Wenn sich der Verstand/Geist, die Sinne und der Intellekt entwickeln, saugst du Informationen auf wie ein Schwamm. Nach und nach wird das Betriebssystem deiner Persönlichkeit installiert. Du beginnst, bestimmte Rollen anzunehmen: Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, Schüler, Student, Freund oder was auch immer.

Damit einhergehend entwickelt sich ein Gefühl von Ego - das Gefühl, ein separates, definiertes „Selbst“ zu sein.

Obwohl sich dieses Selbstgefühl solide und real anfühlt, ist es doch eine völlig willkürliche Ad-hoc-Ansammlung von sich ständig verändernden Variablen. Zu diesen Variablen gehören verschiedene Erinnerungen, Eindrücke, Gedanken, Überzeugungen, Vorlieben und Abneigungen sowie umfangreiche kulturelle und soziale Konditionierungen.

Dein Selbstgefühl stützt sich auf bestimmte Annahmen. Diese Annahmen werden selten, wenn überhaupt, in Frage gestellt. Während du im Laufe deines Heranwachsens alles über die Welt und deine Umwelt lernst, ist das Einzige, worüber du nie etwas lernst, DU selbst - das Du, das scheinbar sieht, hört, denkt, fühlt und tut - das Du hinter den verschiedenen Rollen und Masken, die du annimmst.

Aus diesem Grund bist du selbst-ignorant.

Durch einen Überlagerungsvorgang hältst du dich für etwas, das du nicht bist. Und dies, so erklärt Vedanta, ist die Quelle deines Leidens. Das kann nur dadurch überwunden werden, dass du lernst, wer oder was du in Wahrheit bist.


Wer bist du?

Das Mittel der Selbsterforschung ist im Vedanta ein Prozess der Negation.

Es kommt eine strikte, schrittweise Logik zur Anwendung, um alle nicht-essentiellen Variablen zu eliminieren, um die vielen Schichten der falschen Selbst-Identifikation zu beseitigen.

Durch die Beseitigung des Falschen wird auf diese Weise die Wahrheit enthüllt.

1. Bist du der Körper?

Ein Mensch identifiziert sich in erster Linie mit dem physischen Körper.

Daher sollte die Vorstellung „Ich bin der Körper“ unser erster Gegenstand der Untersuchung sein.

Dies scheint für die meisten Menschen eine gesicherte Annahme zu sein. Sie fühlt sich intuitiv wahr an. Der Körper ist das erste, was uns als offensichtlich „unserer“ bewusst wird. Ich kann meinen Arm bewegen und nicht deinen, deshalb muss es mein Arm sein.

Wir gehen auch davon aus, dass unser Körper immer präsent ist, dass er die ganze Zeit da ist.

Die Mandukya Upanishade enthüllt jedoch, dass der physische Körper nur in einem der drei Zustände erfahren wird, die wir täglich erleben. Er ist im Wachzustand präsent. Aber wenn du schläfst, kannst du jeden Körper in Besitz nehmen, von dem dein Geist träumen möchte. Du kannst jung oder alt sein, ein Mann oder eine Frau, eine winzige Maus oder ein Vogel, der am Himmel schwebt. Im traumlosen Schlaf erlebst du weder Körper noch Objekte irgendwelcher Art.

Obwohl du den physischen Körper nur in einem von diesen drei Zuständen erlebst, identifiziert sich der Verstand automatisch mit ihm.

Du sagst nie: „Mein Körper ist fett“, „Mein Körper ist groß“, „Mein Körper ist alt“ oder „Mein Körper ist hungrig“. Stattdessen sagst du: „Ich bin fett“, „Ich bin groß“, „Ich bin alt“, „Ich bin hungrig“. Der Körper wird mit einem Gefühl von „Ich-Sein“, Ich-haftigkeit ausgestattet.

Du wirst zum Körper.

Allerdings ist dies eine Überlagerung von Subjekt und Objekt.

Da du den Körper kennst - d.h. als Objekt wahrnimmst - kann er nicht das Subjekt sein. Er kann nicht „Du“ sein.

Der Wissende ist immer vom Gewussten verschieden.

Der Körper wird als Objekt der Wahrnehmung erlebt. Auch wenn eine klare Verbindung zu diesem bestimmten Körper besteht, ist er doch ein Objekt der Wahrnehmung.

Darüber hinaus ist der Körper, wie alle weltlichen Objekte, einem ständigen Wandel unterworfen und besitzt keine unabhängige Existenz, wie wir später sehen werden.

2. Bist du der Verstand?

Als nächstes untersuchen wir deine Identifikation mit dem Geist, dem Intellekt und dem Ego.

Zusammen bilden sie das, was Vedanta den feinstofflichen Körper nennt. Deine Identität ist nicht nur in deinem physischen Körper zu finden, sondern auch in deinen Gedanken, Überzeugungen, Interpretationen und Emotionen. Manche Menschen identifizieren sich noch stärker mit dem feinstofflichen als mit dem grobstofflichen Körper.

Die gleiche Logik der Negation  wie beim physischen Körper gilt jedoch auch für den feinstofflichen Körper.

Genauso wie der physische Körper ein Objekt ist, dessen du dir als Subjekt bewusst bist, so sind auch Verstand, Intellekt und Ego Objekte.

Deine Gedanken, Überzeugungen und dein Identitätsgefühl sind nicht greifbar, sie sind willkürlich konstruiert und verändern sich ständig. Dennoch erscheinen sie so sehr real, und du versiehst sie mit einem enormen Gefühl von Eigentümerschaft und „Mein-Sein“.

In unserem Geist erschaffen wir eine komplette subjektive Welt, die wir dann der objektiven Welt überlagern und mit der Wirklichkeit verwechseln.

Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, die objektive Welt von ihrer subjektiven Interpretation dieser Welt zu trennen. Deshalb kann die Überwindung der Identifikation mit dem Geist und den Gedanken noch schwieriger sein als die der Identifikation mit dem Körper.

3. Bist du das Ego?

Die Identifikation mit dem Gefühl, ein „Macher“, ein Ausführender von Handlungen zu sein - was Vedanta Ahamkara oder Ego nennt - ist am schwersten zu durchbrechen.

Und doch tut Vedanta genau das, und wir werden das später noch sehr ausführlich untersuchen. Es genügt vorerst festzustellen, dass du, um der Handelnde zu sein, dir jedes einzelnen Faktors, der dein Denken und Handeln bestimmt, bewusst sein und Kontrolle über ihn haben müsstest.

Die unumgängliche Schlussfolgerung ist, dass Verstand, Intellekt und Ego dir alle als subtile Objekte der Wahrnehmung bekannt sind.

Weil du deinen Verstand kennst, kannst du nicht dein Verstand sein. Weil du deine Gedanken und Gefühle kennst, kannst du nicht deine Gedanken und Gefühle sein. Und schließlich, weil du den Teil von dir kennst, der sich selbst als „Macher“ von Handlungen betrachtet, kannst du nicht dieser Macher sein.

Wenn alle Objekte als Anatma (Nicht-Selbst) negiert werden, bleibst nur noch Du übrig: Atma, das Selbst - der Wissende, das ewige Subjekt - das reines Gewahrsein ist.

Im nächsten Artikel wird die Natur dieses Selbst im Detail untersucht.