Im vorangegangenen Artikel „Samsara und wie man dem Rad des
Leidens entkommt“ wurde dargelegt, dass der Großteil
menschlichen Leidens weniger auf unsere äußeren Probleme - die
vielfältig und unterschiedlich sind - als auf ein grundlegendes
Leiden universellerer Natur zurückzuführen ist.
Dieses Leiden entsteht durch Samsara.
Samsara wurzelt in fehlerhaftem Denken - in der Verkennung
dessen, wer und was wir sind. Wir haben eine Reihe falscher
Vorstellungen darüber, wer wir sind und was wir brauchen, um
glücklich und vollständig zu sein. Dadurch wird unser Leben von
einem Gefühl des Mangels und dem verzweifelten Verlangen
bestimmt, diesen Mangel zu überwinden.
Je stärker dieses Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit ist,
desto größer werden unsere Sehnsüchte.
Dies führt dazu, dass wir schließlich unaufhörlich Objekten
hinterherlaufen, den Dingen, von denen wir glauben, dass sie
uns vervollkommnen werden. Aber das tun sie nie. Wir verbringen
unser Leben damit, zu BEKOMMEN und zu WERDEN. Wir streben
danach, für andere und damit auch für uns selbst akzeptabel zu
werden.
Das Problem ist allerdings, dass Freude niemals im
Objekt unseres Strebens zu finden ist.
Wir glauben dies, weil wir uns, wenn wir
bekommen, was wir wollen, vorübergehend glücklich, vollständig
und zufrieden fühlen.
Aber entspringt dieses Glück dem Objekt?
Wenn es so wäre, würde dieses Objekt immer die gleiche Menge an
Freude bringen, und es würde einem jeden diese Freude
schenken.
Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Was dem Einen
Freude macht, kann dem Anderen Kummer bereiten. Wie James
Swartz humorvoll feststellt: „Eine Oma, die Socken und
Wollmützen für ihre Enkelkinder strickt, wird am
Bungee-Springen keinen Spaß haben. Kannst du dir vorstellen,
wie die Oma am Rand einer Brücke steht und Bungee-Seile an
ihren Beinen befestigt sind? Und wie glücklich wird ihr
pubertierender Enkel, der es liebt, von Brücken zu springen,
beim Sockenstricken sein?“
Glück scheint Objekten zu entspringen, da man eine Woge von
Glück erfährt, wenn man das Objekt seiner Begierde erreicht
hat. Dieses Glück wird aber nicht durch das Objekt selbst
hervorgerufen, sondern durch das Ende des Verlangens nach
diesem Objekt.
Verlangen, das in einem Gefühl eines mangelhaften Selbst
verwurzelt ist, entsteht durch Schmerz. Die Befreiung von
diesem Schmerz - das Aufhören des Verlangens - erlaubt es der
Glückseligkeit und der Freude, die dein eigener natürlicher
Zustand sind, deinen Geist zu überfluten. Vielleicht bist du
nicht ganz davon überzeugt, dass Freude und Glückseligkeit
deiner eigenen Natur entsprechen. Sicherlich kommt es dir nicht
so vor. Aber wenn du mir weiter folgst, werde ich dir das
schließlich beweisen.
Im vorhergehenden Artikel haben wir auch gesehen, dass alle
objektbezogenen Freuden unweigerlich mit Schmerz verbunden
sind. Am Erreichen des Objekts der Begierde sind drei Arten von
Schmerz beteiligt: der Schmerz, es erreichen zu müssen, der
Kampf, es dann zu bewahren und an ihm festzuhalten, und
schließlich der schlimmste Schmerz von allen, der Schmerz des
letztendlichen Verlusts.
Das ist die Zwickmühle von Samsara. Du fühlst ein grundlegendes
Gefühl des Mangels und der Unvollständigkeit in dir, was dich
dazu treibt, äußeren Objekten und Vergnügungen nachzujagen in
der Hoffnung, dauerhaftes Glück, Freude und Vollkommenheit zu
finden. Doch leider führen all diese Freuden unweigerlich zu
Bitterkeit und bleiben selten für lange Zeit
befriedigend.
Der samsarische Geist ist in einem Kreislauf von Mangel,
Verlangen, Anhaftung, Leid und Täuschung gefangen.
Vedanta behauptet, die Wurzel dieses Problems sei Unwissenheit
- genauer gesagt: Selbstignoranz, die Unwissenheit bezüglich
des eigenen Selbst.
Du hältst dich selbst für einen mangelhaften, begrenzten und
unzureichenden kleinen Menschen, dessen ständiger Begleiter der
Kummer ist.
Der einzige Ausweg aus diesem Problem besteht darin, dieses
grundlegende Missverständnis in Frage zu stellen, und das
geschieht durch die Praxis der Selbsterforschung.
Zunächst müssen wir uns fragen, woher all das Leiden
kommt.
Wenn du im Leben viel Leid erfährst, ist das dann
gleichbedeutend damit, dass du ein leidender Mensch bist?
Entspringt dieses Leid dem eigenen Selbst oder rührt es von
etwas anderem her?
Wenn Leid dem Selbst innewohnen würde, dann gäbe es keine
Möglichkeit einer Lösung dafür. Die Natur einer Sache kann
nicht verändert werden. Wenn Leiden also deine Natur IST,
solltest du dich besser daran gewöhnen, denn das Leiden wird
für immer bei dir bleiben!
Leiden kann allerdings nicht deine Natur sein.
Wäre es natürlich für dich, dann wäre es kein Problem. Vielmehr
würdest du es freudig akzeptieren.
Nur wenn etwas unnatürlich ist, wollen wir uns davon befreien.
So wie der physische Körper versucht, Giftstoffe und
Fremdkörper auszuscheiden, so wollen wir auch alles loswerden,
was für uns unnatürlich ist. Und in diesem Fall sind das
Gefühle von Leid und Begrenzung.
Wenn dieses Leid zu deiner Natur gehören würde, würdest
du es nicht loswerden wollen. Du kannst also nicht die Quelle
deines Leids sein.
Vedanta unterscheidet zwei Kategorien der Existenz:
Atma (das Selbst) und Anatma (das Nicht-Selbst).
Kurz gesagt, es gibt Gewahrsein (das Wissende) und die
verschiedenen Objekte (das Gewusste), die in Gewahrsein
erscheinen.
(Tatsächlich wird Anatma später negiert, und es wird
nachgewiesen, dass nur Atma existiert, andernfalls wäre Vedanta
eine dualistische Philosophie. Diese vorläufige Annahme einer
Subjekt/Objekt-Dualität ist ein notwendiger Teil der
Lehre).
Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Ordnungen der
Wirklichkeit ist die Essenz von Vedanta und der Schlüssel zur
Befreiung.
Die grundlegende Verwirrung und damit die Wurzel unseres
Leidens ist die Unfähigkeit, zwischen diesen beiden Ordnungen
zu unterscheiden.
Wenn Atma (das Selbst) nicht die Quelle deines Leidens ist,
muss es dann nicht ganz sicher Anatma sein?
Die Bhagavad Gita ist die Geschichte von Arjuna, einem Krieger
am Rande einer Schlacht, der von Zweifel und Verzweiflung
überwältigt seine Waffen niederlegt.
Er wendet sich an seinen Mentor, den göttlichen Krishna, der
ihm daraufhin sagt: „Dein Kummer ist fehl am Platz“. Das
ursprüngliche Sanskrit, aśocyān anvaśocastväm, bedeutet
wörtlich: „Du trauerst um etwas, das keine Trauer
verdient.“
Krishna erklärt damit, dass Arjunas Trauer unberechtigt ist.
Ein Problem kann nur dann gelöst werden, wenn es ein
berechtigtes Problem ist. Wenn ich fälschlicherweise glaube,
ich hätte eine bestimmte Krankheit, kann ich nicht davon
geheilt werden. Ich kann nicht davon geheilt werden, weil ich
sie gar nicht habe! Alles, was ich habe, ist ein Irrglaube,
eine Überlagerung.
Heilung kann nur dann funktionieren, wenn sie der gleichen
Ordnung der Realität angehört wie das Problem. Wenn ich ein
körperliches Problem habe, wird eine Heilung in der Vorstellung
nicht funktionieren. Wenn ich ein eingebildetes Problem habe,
wird genauso wenig eine physische Heilung funktionieren. Ich
kann meine eingebildete Krankheit nur heilen, indem ich die
Überlagerung auflöse, die sie scheinbar verursacht hat.
Krishna enthüllt, dass Arjunas Problem von einer ähnlichen
Natur ist. Arjunas Leiden entspricht dem grundlegenden Leiden
der Menschheit. Leid wird Atma, dem Selbst, aufgrund von
Unwissenheit überlagert, aufgrund des Nicht-Erkennens der
wahren Natur des Selbst.
Wenn das Leiden nur auf Verwirrung und dem Nicht-Verstehen
unserer Natur beruht, dann wird es nicht wirklich durch Anatma,
die äußeren Bedingungen, verursacht. Wie mein eingebildeter
Gesundheitszustand werden mein Leiden und meine Trauer durch
Unwissenheit und sonst nichts verursacht.
Menschen werden unwissend geboren.
Bei der Geburt kennt man nicht einmal seine eigene Mutter und
Vater. Du weißt nichts über die Welt, deine Umgebung oder dich
selbst.
Wenn sich der Verstand/Geist, die Sinne und der Intellekt
entwickeln, saugst du Informationen auf wie ein Schwamm. Nach
und nach wird das Betriebssystem deiner Persönlichkeit
installiert. Du beginnst, bestimmte Rollen anzunehmen: Sohn
oder Tochter, Bruder oder Schwester, Schüler, Student, Freund
oder was auch immer.
Damit einhergehend entwickelt sich ein Gefühl von Ego - das
Gefühl, ein separates, definiertes „Selbst“ zu sein.
Obwohl sich dieses Selbstgefühl solide und real anfühlt, ist es
doch eine völlig willkürliche Ad-hoc-Ansammlung von sich
ständig verändernden Variablen. Zu diesen Variablen gehören
verschiedene Erinnerungen, Eindrücke, Gedanken, Überzeugungen,
Vorlieben und Abneigungen sowie umfangreiche kulturelle und
soziale Konditionierungen.
Dein Selbstgefühl stützt sich auf bestimmte Annahmen. Diese
Annahmen werden selten, wenn überhaupt, in Frage gestellt.
Während du im Laufe deines Heranwachsens alles über die Welt
und deine Umwelt lernst, ist das Einzige, worüber du nie etwas
lernst, DU selbst - das Du, das scheinbar sieht, hört, denkt,
fühlt und tut - das Du hinter den verschiedenen Rollen und
Masken, die du annimmst.
Aus diesem Grund bist du selbst-ignorant.
Durch einen Überlagerungsvorgang hältst du dich für etwas, das
du nicht bist. Und dies, so erklärt Vedanta, ist die Quelle
deines Leidens. Das kann nur dadurch überwunden werden, dass du
lernst, wer oder was du in Wahrheit bist.
Das Mittel der Selbsterforschung ist im Vedanta ein Prozess der
Negation.
Es kommt eine strikte, schrittweise Logik zur Anwendung, um
alle nicht-essentiellen Variablen zu eliminieren, um die vielen
Schichten der falschen Selbst-Identifikation zu
beseitigen.
Durch die Beseitigung des Falschen wird auf diese Weise
die Wahrheit enthüllt.
1. Bist du der Körper?
Ein Mensch identifiziert sich in erster Linie
mit dem physischen Körper.
Daher sollte die Vorstellung „Ich bin der Körper“ unser erster
Gegenstand der Untersuchung sein.
Dies scheint für die meisten Menschen eine gesicherte Annahme
zu sein. Sie fühlt sich intuitiv wahr an. Der Körper ist das
erste, was uns als offensichtlich „unserer“ bewusst wird. Ich
kann meinen Arm bewegen und nicht deinen, deshalb muss es mein
Arm sein.
Wir gehen auch davon aus, dass unser Körper immer präsent ist,
dass er die ganze Zeit da ist.
Die Mandukya Upanishade enthüllt jedoch, dass der physische
Körper nur in einem der drei Zustände erfahren wird, die wir
täglich erleben. Er ist im Wachzustand präsent. Aber wenn du
schläfst, kannst du jeden Körper in Besitz nehmen, von dem dein
Geist träumen möchte. Du kannst jung oder alt sein, ein Mann
oder eine Frau, eine winzige Maus oder ein Vogel, der am Himmel
schwebt. Im traumlosen Schlaf erlebst du weder Körper noch
Objekte irgendwelcher Art.
Obwohl du den physischen Körper nur in einem von diesen drei
Zuständen erlebst, identifiziert sich der Verstand automatisch
mit ihm.
Du sagst nie: „Mein Körper ist fett“, „Mein Körper ist groß“,
„Mein Körper ist alt“ oder „Mein Körper ist hungrig“.
Stattdessen sagst du: „Ich bin fett“, „Ich bin groß“, „Ich bin
alt“, „Ich bin hungrig“. Der Körper wird mit einem Gefühl von
„Ich-Sein“, Ich-haftigkeit ausgestattet.
Du wirst zum Körper.
Allerdings ist dies eine Überlagerung von Subjekt und
Objekt.
Da du den Körper kennst - d.h. als Objekt wahrnimmst - kann er
nicht das Subjekt sein. Er kann nicht „Du“ sein.
Der Wissende ist immer vom Gewussten verschieden.
Der Körper wird als Objekt der Wahrnehmung
erlebt. Auch wenn eine klare Verbindung zu diesem bestimmten
Körper besteht, ist er doch ein Objekt der Wahrnehmung.
Darüber hinaus ist der Körper, wie alle weltlichen Objekte,
einem ständigen Wandel unterworfen und besitzt keine
unabhängige Existenz, wie wir später sehen werden.
2. Bist du der Verstand?
Als nächstes untersuchen wir deine
Identifikation mit dem Geist, dem Intellekt und dem Ego.
Zusammen bilden sie das, was Vedanta den feinstofflichen Körper
nennt. Deine Identität ist nicht nur in deinem physischen
Körper zu finden, sondern auch in deinen Gedanken,
Überzeugungen, Interpretationen und Emotionen. Manche Menschen
identifizieren sich noch stärker mit dem feinstofflichen als
mit dem grobstofflichen Körper.
Die gleiche Logik der Negation wie beim physischen Körper
gilt jedoch auch für den feinstofflichen Körper.
Genauso wie der physische Körper ein Objekt ist, dessen du dir
als Subjekt bewusst bist, so sind auch Verstand, Intellekt und
Ego Objekte.
Deine Gedanken, Überzeugungen und dein Identitätsgefühl sind
nicht greifbar, sie sind willkürlich konstruiert und verändern
sich ständig. Dennoch erscheinen sie so sehr real, und du
versiehst sie mit einem enormen Gefühl von Eigentümerschaft und
„Mein-Sein“.
In unserem Geist erschaffen wir eine komplette
subjektive Welt, die wir dann der objektiven Welt überlagern
und mit der Wirklichkeit verwechseln.
Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, die
objektive Welt von ihrer subjektiven Interpretation dieser Welt
zu trennen. Deshalb kann die Überwindung der Identifikation mit
dem Geist und den Gedanken noch schwieriger sein als die der
Identifikation mit dem Körper.
3. Bist du das Ego?
Die Identifikation mit dem Gefühl, ein „Macher“,
ein Ausführender von Handlungen zu sein - was Vedanta Ahamkara
oder Ego nennt - ist am schwersten zu durchbrechen.
Und doch tut Vedanta genau das, und wir werden das später noch
sehr ausführlich untersuchen. Es genügt vorerst festzustellen,
dass du, um der Handelnde zu sein, dir jedes einzelnen Faktors,
der dein Denken und Handeln bestimmt, bewusst sein und
Kontrolle über ihn haben müsstest.
Die unumgängliche Schlussfolgerung ist, dass Verstand,
Intellekt und Ego dir alle als subtile Objekte der Wahrnehmung
bekannt sind.
Weil du deinen Verstand kennst, kannst du nicht dein Verstand
sein. Weil du deine Gedanken und Gefühle kennst, kannst du
nicht deine Gedanken und Gefühle sein. Und schließlich, weil du
den Teil von dir kennst, der sich selbst als „Macher“ von
Handlungen betrachtet, kannst du nicht dieser Macher
sein.
Wenn alle Objekte als Anatma (Nicht-Selbst) negiert
werden, bleibst nur noch Du übrig: Atma, das Selbst - der
Wissende, das ewige Subjekt - das reines Gewahrsein ist.
Im nächsten Artikel wird die Natur dieses
Selbst im Detail untersucht.